Ich könnte nicht mehr sagen, wie er heißt, er hat es mir mal verraten, das ist bestimmt fünfzehn Jahre her. So lange kennen wir uns schon, nein, länger noch, zwanzig, vielleicht sind’s sogar fünundzwanzig Jahre. Früher hat er immer an der Hoheluftbrücke gesessen und ist dann irgendwann nach Eppendorf umgezogen, etwa vor zehn Jahren, denke ich. Seitdem hat man ihn immer an der selben Stelle gesehen, ganz in der Nähe der U-Bahnstation Eppendorfer Baum, dort, wo eine Straßenbrücke über den Isebekkanal führt. In den letzten Jahren hat er einen Rollator dabeigehabt, der ihm nicht nur beim Gehen geholfen, sondern ihn auch von der Not befreit hat, ständig auf dem Boden sitzen zu müssen. Sein Revier, den Eppendorfer Baum mit seinen vielen eher noblen Geschäften, hat er sich mit drei Anderen geteilt, einer blonden Frau in immer dem selben langen Mantel, die auf der anderen Seite der Straße ebenfalls auf der Brücke heimisch gewesen ist, und den Zwillingen, die vor dem Feinkostladen in der Nähe des Klostersterns auf sehr zurückhaltende und höfliche Art versucht haben, die Obdachlosenzeitschrift „Hinz&Kunzt“ zu verkaufen.
Mit einem ganz speziellen Blick hat er die Vorbeigehenden angeschaut, eben nicht bettelnd, sondern ausdrückend, dass er durchaus auch etwas zu geben habe. Und ist man dann stehengeblieben, hat er angefangen zu reden. Es ist niemals ein wirkliches Gespräch zwischen uns daraus geworden, weil er bei jedem meiner Versuche, mich sprachlich zu beteiligen, sozusagen einen Zahn zugelegt hat und aus seiner Rede erst einen Monolog und schließlich eine Art Litanei hat werden lassen, die inhaltlich zunehmend schwerer zu fassen gewesen ist. Mein wahrscheinlich auch von ihm zugedachter Teil an der Begegnung hat also in der Regel lediglich darin bestanden, in meinen Hosentaschen nach Münzen zu kramen. Und doch ist tatsächlich in dem, was er dabei gesprochen hat, eine Art Geschenk für mich gewesen. Wie soll ich das sagen? Manchmal ist für mich zu empfinden gewesen, dass er nicht mehr und nicht weniger Bettler ist als ich.
Einmal öffnet er seine Jacke und holt einen schmierigen, dicht beschriebenen Zettel hervor. Er schreibt Gedichte, oder besser eine Art lyrische Prosa. Dieses Gedicht, das sei im letzten Jahr beinahe veröffentlicht worden, leider habe er denjenigen, der ihm das versprochen habe, einfach nicht mehr finden können, meint er ein wenig traurig und in ungewohnter Klarheit. Es ist ein sehnsuchtsvolles Gedicht über Ameisen, und jedes zehnte Wort ist „geschwisterlich“.
Diesen Punkt, den habe ich verstanden. Und damit meine ich: in mir wiedererkannt.
Jetzt ist er scheints verschwunden, wie auch seine drei Kollegen. Statt ihrer zählt man auf der Meile acht professionelle Bettler, die morgens mit einem Transporter hergebracht werden und dann ihre Behinderungen zur Schau stellen. Einer sitzt angelehnt an eine Schilderstange, mit dem Kopf unter dem Abfalleimer, der an ihr befestigt ist, direkt vor dem Eingang zum Supermarkt. Den mit der viel zu kurzen Krücke, die ein Gangbild erzwingt, das einen schaudern lässt vor so viel Körperverkrümmtheit, habe ich neulich quietschfidel über den Isemarkt hüpfen sehen. Andere haben tatsächlich teils erhebliche körperliche Behinderungen.
Es ist zwar anders. Betteln ist nicht gleich Betteln. Hier ist Habenwollen und Gebenmüssen zu spüren, die Show, die Taktik. Der Betrug. Und eine Eiseskälte. Aber ich frage Dich ….
… mein lieber verschwundener Poet, geben wir auf?
Geben wir auf, daran festzuhalten – mit einem Ameisengedicht über dem Herzen oder sonst irgendwie – dass unser Gefühl von Geschwisterlichkeit höchstens unter dem Müll von Hass, Schuldzuweisung und Angst verdeckt werden, aber nie ganz sterben kann … weil wir das SIND, egal, was wir denken: Geschwister?
Geben wir auf?
*
Mit einem ganz speziellen Blick hat er die Vorbeigehenden angeschaut, eben nicht bettelnd, sondern ausdrückend, dass er durchaus auch etwas zu geben habe. Und ist man dann stehengeblieben, hat er angefangen zu reden. Es ist niemals ein wirkliches Gespräch zwischen uns daraus geworden, weil er bei jedem meiner Versuche, mich sprachlich zu beteiligen, sozusagen einen Zahn zugelegt hat und aus seiner Rede erst einen Monolog und schließlich eine Art Litanei hat werden lassen, die inhaltlich zunehmend schwerer zu fassen gewesen ist. Mein wahrscheinlich auch von ihm zugedachter Teil an der Begegnung hat also in der Regel lediglich darin bestanden, in meinen Hosentaschen nach Münzen zu kramen. Und doch ist tatsächlich in dem, was er dabei gesprochen hat, eine Art Geschenk für mich gewesen. Wie soll ich das sagen? Manchmal ist für mich zu empfinden gewesen, dass er nicht mehr und nicht weniger Bettler ist als ich.
Einmal öffnet er seine Jacke und holt einen schmierigen, dicht beschriebenen Zettel hervor. Er schreibt Gedichte, oder besser eine Art lyrische Prosa. Dieses Gedicht, das sei im letzten Jahr beinahe veröffentlicht worden, leider habe er denjenigen, der ihm das versprochen habe, einfach nicht mehr finden können, meint er ein wenig traurig und in ungewohnter Klarheit. Es ist ein sehnsuchtsvolles Gedicht über Ameisen, und jedes zehnte Wort ist „geschwisterlich“.
Diesen Punkt, den habe ich verstanden. Und damit meine ich: in mir wiedererkannt.
Jetzt ist er scheints verschwunden, wie auch seine drei Kollegen. Statt ihrer zählt man auf der Meile acht professionelle Bettler, die morgens mit einem Transporter hergebracht werden und dann ihre Behinderungen zur Schau stellen. Einer sitzt angelehnt an eine Schilderstange, mit dem Kopf unter dem Abfalleimer, der an ihr befestigt ist, direkt vor dem Eingang zum Supermarkt. Den mit der viel zu kurzen Krücke, die ein Gangbild erzwingt, das einen schaudern lässt vor so viel Körperverkrümmtheit, habe ich neulich quietschfidel über den Isemarkt hüpfen sehen. Andere haben tatsächlich teils erhebliche körperliche Behinderungen.
Es ist zwar anders. Betteln ist nicht gleich Betteln. Hier ist Habenwollen und Gebenmüssen zu spüren, die Show, die Taktik. Der Betrug. Und eine Eiseskälte. Aber ich frage Dich ….
… mein lieber verschwundener Poet, geben wir auf?
Geben wir auf, daran festzuhalten – mit einem Ameisengedicht über dem Herzen oder sonst irgendwie – dass unser Gefühl von Geschwisterlichkeit höchstens unter dem Müll von Hass, Schuldzuweisung und Angst verdeckt werden, aber nie ganz sterben kann … weil wir das SIND, egal, was wir denken: Geschwister?
Geben wir auf?
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