luftzumathmen: Auf Kurs mit Wundern
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Aber Sprache ist immer!

23/9/2018

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Gestern geriet ich in eine Situation, die ich als „angeregte Konversation“ bezeichnen würde. Und die mich, obgleich sie in äußerst angenehmer Atmosphäre stattfand, in einer Art Katerstimmung hinterließ. Es wurde auch dabei gegessen, und wie es eben so ist, wenn man lange zusammensitzt: es wurde zu viel gegessen.

„Zu viel“, das ging mir lange nach, zu viel von allem: Reden, Essen, Trinken. Was wollten wir uns damit sagen?
Ganz am Ende des Treffens gab es einen Moment des Gesprächs zwischen mir und einem der anderen Beteiligten. Und darin ging mir gestern schon leise auf – und wird mir heute gänzlich klar – was mir fehlte und mich trotz der äußerlich höchst angenehmen Situation so ein bisschen unglücklich machte: Ich hatte das Gefühl, jetzt erst, als so viel schon gesagt war, das erste Wort zu hören und zu sprechen, und dass bisher von uns eher gegen das, was jetzt für einen Moment auftauchen durfte, angesprochen worden war: unsere gemeinsame Quelle, den Grund und Boden für all unser Reden, den wir miteinander teilen.

Sprache ist Austausch, ist Sich-Teilen in den Geist, Sprache ist Lieben aus dem Urgrund heraus, mit oder ohne Worte, das ist überhaupt nicht wichtig. Aber Sprache akzeptiert keinen separaten Rahmen, keinen persönlichen, keinen familiären, keinen kulturellen. Weil sie aus der Unmittelbarkeit kommen will, aus sich Selbst. Sprache ist Bewegung in LIEBE. In der Stille wird sie besonders deutlich. In der leisen Bewegung hörst du sie am besten.

In der Konversation ist viel Lärm. Irgendwas oder irgendwer wird immer durchgeprügelt. Die Schuld spielt ihr Spiel. Und wir schlucken das. Zu viel. Zu viel.

*

Jetzt sitze ich hinter meinem Kaffee und bin ein wenig allergisch gegen die Leute um mich herum.
Auch das kenn ich gut: meine Form der Katerstimmung, da brauch ich keinen Tropfen Alkohol getrunken zu haben.

Ein Wunder könnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich sag das nicht so dahin, es ist diese Leere in mir, die ich gelernt habe nicht zu missachten, sie kann zur Einladung eines Wunders werden.

Schräg rechts sitzt ein offensichtlich Obdachloser, der mir neulich schon hier aufgefallen war, indem er äußerst nervöse, getriebene Bewegungen gemacht hatte, so, als würde er in jeder Sekunde dreimal überlegen, ob er noch sitzen bleiben solle oder gehen. Eine Art rasender Stillstand. Irgendwann war er abrupt aufgestanden und schnurstracks weggegangen.

Heute sitzt er ganz ruhig da und trinkt wie ich seinen Kaffee.

An dem Tisch vor mir sitzt ein junger Mann, edel gekleidet, wohlgestaltet, vor seinem ehemals üppigen Frühstück, das er gerade beendet … ich fass es nicht: Jetzt ist er es, von dem genau diese eigenartigen Bewegungen ausgehen, die ich neulich bei dem Obdachlosen beobachtet habe: getrieben, unentschieden und im Ergebnis Stillstand bedeutend: jetzt ist er es, der sich offensichtlich nicht entscheiden kann, ob er bleiben oder gehen soll. Das geht minutenlang so.

Mein Kater will mir gerade zuschnurren, dass der Kerl nervt und endlich dieses Herumhampeln lassen soll, da steht er auf, jetzt ganz entschieden, geht rüber zu dem Obdachlosen und stellt ihm mit einer fragenden Miene einen Teller hin, auf dem er die Reste seiner Mahlzeit – ein Brötchen, ein Schälchen Butter und eines mit Marmelade – zu einem veritablen Frühstück zusammengeräumt hat. Eine sorgfältig gefaltete Serviette legt er daneben.

Der Obdachlose nickt wortlos, ohne erkennbare Emotionen, und der junge Mann geht.

*

Sprache ist immer zwischen uns … sie bedeutet Miteinander-Teilen der Wahrheit. Sie wartet mit unendlicher Geduld darauf, dass wir unsere rasende Unentschlossenheit überwinden, den Urgrund zu akzeptieren, aus dem sie kommt und der sie zwischen uns wirksam werden lässt.
Sprachlosigkeit, den Bruch der Kommunikation, können wir uns nur einbilden, aber diese Einbildung ist höchst wirksam: sie lässt uns glauben, unsere Bewegung aus der QUELLE sei tatsächlich gelähmt und die Welt, in der wir unter Umständen ein Flugzeug brauchen, um die Distanz zwischen uns zu überwinden, die Welt, in der es auch Mangel, Ablehnung und Unüberwindlichkeit gibt, die Welt, die den unausweichlichen Tod als grundsätzlichen Konsens fordert … die Welt der Stummen sei wahr.

                                                                                                                                                ***

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NICHT ÄRGERN, NUR WUNDERN!

31/1/2018

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Ich sitze hier in der Besucherecke auf dem Gang einer Krankenhausstation, als drei Dinge gleichzeitig passieren:

Die Türen beider meinem Beobachtersessel direkt gegenüberliegenden Patientenzimmer öffnen sich und vom Stationszimmer her nähert sich der junge Arzt in Ausbildung, der gestern beim Versuch, eine invasive und sehr unangenehme Untersuchung bei meiner Freundin durchzuführen, gescheitert war und die Sache an die Stationsärztin hatte übergeben müssen. Ein vollkommen normaler Fehlversuch eines Übenden, der ihm von niemandem, auch nicht von meiner Freundin oder von mir, übelgenommen worden war, aber dennoch war er danach sehr traurig über die Station geschlichen.

Auch jetzt will er schnell an mir vorbeihuschen, aber ich halte ihn auf.

Währenddessen wird der Patient, der aus dem rechten Zimmer auf den Gang herausgekommen und hier auf den netten Iraner gestoßen ist, der auf dieser Station den  Kaffee und das Essen zu den Patienten bringt, zunehmend zornig. Er kann sich nach seinem Schlaganfall schlecht verständlich machen und versucht mit großer Entschiedenheit, das dem gleichmütig freundlich bleibenden Mann anzulasten, der ihm Fragen zu seinen Essenswünschen stellt. Er wirft ihm vor, nicht gut genug Deutsch zu sprechen, um mit ihm kommunizieren und ihn verstehen zu können und ihn darüberhinaus mehrfach mit derselben Frage belästigt zu haben. Was definitiv eine falsche Sicht der Dinge ist: die Fragen sind klar und deutlich zu verstehen und die Wiederholungen sind nötig, weil die Antworten nicht verständlich sind. Und überhaupt müsse man eigentlich längst wissen, was er mag und was nicht, meint dann noch der Zürnende, der vermutlich genau das vor seiner Erkrankung so gewohnt war.

Aus dem linken Zimmer kommt indessen mit ungeheurem Elan die Reinigungs-Dame der Station im wahrsten Sinne des Wortes herausgefegt und wechselt dabei noch mit lauter, fröhlicher Stimme ein paar Worte mit einer der Patientinnen im Zimmer, die - nach dem Tonfall zu schließen - offensichtlich fest entschlossen ist, durch chronisches Nörgeln bei der Erlösung der Welt zu helfen.

Den jungen Arzt also kann ich mitten in dem jetzt entstandenen Tohuwabohu kurz stoppen, um ihm zu sagen, dass ich bewundert habe, wie besonnen, ruhig und professionell er mit der Situation gestern umgegangen sei. Ich bedanke mich bei ihm für alles, was er für meine Freundin getan hat und wir verabschieden uns voneinander.

Er geht davon und murmelt etwas, das ich nicht verstehe, weil mich jetzt der Kaffee-Mann von gegenüber laut anspricht, ob ich einen wolle, einen Kaffee nämlich. Das wiederum nimmt der zürnende Mensch, von seiner Essensbestellung aufblickend, persönlich und schreit - jetzt offen erbost über die Frechheit, das ein zweites Mal gefragt zu werden - dem freundlichen Mann ein donnerndes und wohlartikuliertes NEIN!!!! Ins Gesicht.

"Das galt mir!" versuche ich zu erklären, natürlich ohne Erfolg, denn das leibhaftige Opfer dieser Welt denkt nicht daran, sich korrigieren zu lassen in seiner Einschätzung der Lage und kehrt kopfschüttelnd in sein Zimmer zurück.

Ich bekomme von dem erstaunlich gelassen gebliebenen Angeklagten zwinkernden Auges meinen Kaffee herübergereicht und höre entzückt, wie die Reinemachefrau der nörgelnden Patientin im anderen Zimmer das Lied der Vergebung singt: sie solle den Tag nicht mit Ärger beginnen, rät sie ihr heiter, und lieber ein paar gute Gedanken haben.

"Nicht ärgern, nur wundern", ruft ihr die Patientin in allerdings zynischen Tonfall hinterher, während die gute Fee behutsam, aber entschieden die Tür hinter sich schließt und aufatmend "genau!" sagt.

Unsere Gesichter versenken sich regelrecht ineinander. Der Kaffeemann verschwindet mit seinem Wagen gerade um die Ecke und da ist ein Moment absolute Ruhe.

"Wissen Sie was?" es kommt einfach so aus mir raus: "Sie sind hier der beste Arzt!"
Sie versteht es genau, lacht hell auf, wirft den Kopf in den Nacken und macht dann mit ihrer linken Hand eine Geste in eine imaginäre Runde, die sehr sprechend und wahrhaftig auf mich wirkt und alle, alle, alle meinen will, obgleich ich für einen Augenblick doch das Gefühl habe, dass sie ein wenig mehr hinter dem Kaffeemann herzeigt als in Richtung der um den Oberarzt Versammelten auf der anderen Seite des Ganges.

"Wir alle hier", sagt sie und noch mal: "Wir alle hier!"

                                                                                                                                                   *

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HEIL-Haus

4/11/2017

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Schon von weitem höre ich die Geräusche knackender Zweige, die von einem derben Stück Holz verursacht werden, das immer wieder von unten in die Krone der alten Kastanie geworfen wird. Als ich näher komme, sind die beiden schon etwas älteren Wurfakrobaten – wohl ein Ehepaar – dabei, mit einem Strahlen der Vorfreude in den Gesichtern die Kastanien aufzusammeln, die sie so „geerntet“ haben, wahrscheinlich für ihre Enkelkinder, kann man annehmen. Ich gehe auf die beiden zu und bitte sie, damit aufzuhören, den Baum derart zu verletzen. Man muss mit wenigen Wörtern auskommen, Sprachbarriere. Sie sind ein wenig eingeschnappt und gehen dann mit ihrem schon gut gefüllten Beutel Kastanien davon.

Eine etwas traurige Szene, in der sich verschiedene Interessen kreuzen, die nicht vereinbar zu sein scheinen. Die Freude der Großeltern hatte die Schmerzen eines Baumes übersehen. Ein wirklich versöhnliches Gespräch kommt nicht zustande. Jeder geht seines Weges. Der Baum, der kaum etwas anderes gelernt hat zu wollen als zum Licht zu streben und der seine Gelassenheit darin schon über Jahrhunderte eingeübt hat, bleibt leicht blutend zurück.
Die Kastanie steht vor dem Eingang des Universitätskrankenhauses. Und sie steht da wie ein Symbol. Hier ist die Gesundheitsindustrie zu Hause, und sie hat ihre Interessen in Stein gehauen, in die Gebäudearchitektur gegossen, in das Verhalten des Personals eingebrannt und den Abläufen diktiert, die ein Streben nach dem Licht nicht vorsehen, das für alle gleichermaßen Nahrung und Lebensquelle ist. Hier ist der Geist nach wenigen Schritten ermüdet, er fühlt den Druck, sich den Notwendigkeiten zu beugen, sich zu den vorgegebenen Schienen zu reduzieren, auf denen sich die Züge hier nach Fahrplan bewegen. Er stört als das, was er IST: in allem und jedem frei atmend, auch hier, wo krank und gesund so klare Fronten zu bilden scheinen. Er akzeptiert keine Front, er denkt gleichzeitig an Kastanien und an Enkelkinder.

Dafür ist hier kein Raum.

Alles ist eine Spur zu eng, die Ausschilderung in dem labyrinthären Komplex ist so, dass sie immer ein wenig zu kurz greift, nie informiert sie vollständig, die Stationen und Patientenzimmer sind derart auf Funktionalität getrimmt, dass einem der Atem wegbleibt, die Pflegekräfte sind allenfalls höflich, aber immer schon weg, bevor man Luft für das geholt hat, was man sagen will, ihre Bewegungen gestresst, gehetzt, keine Zeit, keine Zeit, das ist hier der Takt.

Ich habe es anders erlebt in den letzten Wochen. Es gibt ganz andere Krankenhäuser. Das letzte, ein Krankenhaus der Diakonie, hat auf den Stationen eine Schrift aushängen über die Philosophie des Hauses und darin kommen „Gott“ und „Nächstenliebe“ vor. Man hat das sehr stark gemerkt, als Patient und als Besucher ist man immer auf Augenhöhe mit denen gewesen, die hier arbeiten, ist ganz selbstverständlich als Mensch angesprochen worden, bevor die Scheidung in gesund und krank relevant geworden ist.
Unfassbar der Kontrast zu dem Unikrankenhaus. Kein Raum. Keine Luft. Geistlos.

Davon werden wir krank, nicht wahr? Und das müssen wir heilen! Den Wahn, es gehe uns besser, wenn wir den EINENDEN GEIST, wenn wir GOTT vor die Tür schicken, den Irrtum, damit Klarheit über unser Ziel erreichen zu können.
„Die Angst erscheint in vielen verschiedenen Formen“, z.B. als Gesundheitswahn in einem wahnsinnig gewordenen Krankenhaus, das in allen seinen Elementen vermittelt, dass der Geist des Patienten, der nichts anderes wollen kann, als zum LICHT zu streben, wo sein HEIM und sein HEIL wohnt, bedeutungslos ist.

„Doch die LIEBE ist eins“ und sie bleibt eins, wie sehr ich mich auch einfangen lasse von diesem Höllenort. Ich besuche mal wieder meinen Freund, und als ich das Patientenzimmer betrete, ist es, als sitze das Kastanienbaum-Paar einträchtig nebeneinander auf dem Nachbarbett und schaut Fernsehen. Sie diesmal ganz in Schwarz gehüllt und beide diesmal ohne die geringsten Deutschkenntnisse. Aber dann das:
Mein Freund äußert, dass er Hunger habe und irgendwie muss die Frau in Schwarz das mitbekommen haben. Mit einem strahlenden Lächeln reicht sie ihm eine Banane herüber, die mein Freund dankbar annimmt.

Der Heilige Geist schaut heute durch wen auch immer, und wenn nicht durch mich, der ich vielleicht gerade ein wenig schwächele, dann durch dich, und wenn er sich in dem Weg einer Banane von A nach B demonstriert, dann ist das heute der Weg. Wir müssen nur fest bleiben lernen: der GEIST lässt sich nicht aus der Tür schicken. Auch hier nicht.

(Zitate aus dem spirituellen Lehrwerk „Ein Kurs in Wundern“, Greuthof-Verlag)

                                                                                                                                                      *

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Miriam, die Rose Syriens

10/5/2017

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„Dafür hast Du auch keinen Trost!“, dachte er und blickte auf das große Kreuz, das über dem Altar schwebte wie ein Damoklesschwert und an das mit übergroßen Nägeln eine Jesusfigur geschlagen war, die alles andere als Zuversicht ausstrahlte: Der Kopf hing über der rechten Schulter eines längst gebrochenen Körpers, wie um einen letzten Halt zu finden, während die Augen von der Aussichtslosigkeit dieser und jeder Hoffnung sprachen.

„Schrecklich“, dachte Mike, „was will er mir eigentlich damit sagen? Dass er mich von meiner Schuld befreit hat? Da hätte er viel zu tun gehabt …“
Fast verzweifelt versuchte er sich mit diesem Scherz bei Laune zu halten, musste aber bemerken, dass sein geplantes Lächeln, noch bevor es endgültige Gestalt annehmen konnte, in einen feinen Schmerz, eine sirrende Angst mutierte - eine Verwandlung, die ihm wohlvertraut war, hatten diese verschworenen Geschwister des Unheils doch schon manches Mal am Rande seiner Welt als Überraschung auf ihn gewartet ...

Sein Blick ging wieder hinüber zu Thomas, seinem Freund, der sonst immer genau hier auf dieser Bank neben ihm saß, aber heute … wie ein Vakuum fühlte sich der Platz neben ihm an, der merkwürdigerweise als einziger in der gut besuchten Kirche frei geblieben war, manche Besucher  gaben sich schon mit einem Stehplatz zufrieden, aber neben ihn, auf den äußersten Platz zum Mittelgang hin, hatte sich bisher niemand setzen wollen.

Mike war nicht gläubig, er war Wissenschaftler und fühlte sich dem Anspruch einer logischen Vernunft verpflichtet, Mythen und metaphysische Ansätze eines transzendenten Weltverständnisses letztlich innerhalb des dualistischen Rahmens eben dieser Vernunft erklären zu können und alle Bilder und Andeutungen eines „Unnennbaren“ als Ausdruck des Bedürfnisses nach einer solch verstandeskompatiblen Entschlüsselung aufzufassen.

Seit drei Monaten allerdings kam er regelmäßig sonntags zur Messe hierher, Thomas zuliebe, einem Freund seit Kindertagen, der an einer unheilbaren Nervenkrankheit litt und seinen Trost im christlichen Glauben suchte. Mike hatte ihn in den letzten Jahren als einen überstrengen Bibelgläubigen wahrgenommen, der zweifellos viel Gutes für seine Mitmenschen tat, seine Umgebung aber mit dem permanenten Tonfall eines Predigers und einem entschiedenen Übermaß an moralischen Vorstellungen, die er aus seinem Glauben ableitete, gewaltig unter Druck setzte. Die Freundschaft zu ihm aber hatte stets überwogen - sie waren sich einmal sehr nahe gekommen, als Mike in großen Schwierigkeiten gesteckt und Thomas ihm sehr geholfen hatte: Da war es zu einem Moment großer Nähe zwischen ihnen gekommen, die nicht mehr zu verbannen war und ihre Beziehung seitdem bestimmte, auch wenn sie in Diskussionen um ihr Weltverständnis kaum Berührungspunkte zu haben schienen.

Als Thomas dann erkrankte und irgendwann allen klar wurde, dass er nur noch wenige Jahre würde zu leben haben, wurde das sonntägliche Treffen für Mike zur Gelegenheit, einmal in der Woche seinem Freund zu begegnen. Nach der Messe ging man regelmäßig noch in ein Café, um sich zum tausendsten Mal die alten Geschichten zu erzählen, die Weltlage zu besprechen und in allen dabei aufkommenden Gefühlslagen den Grundton sorgsam zu umkreisen, der seit damals die Harmonien ihrer Begegnungen und Gespräche ausmachte.

Bei den gemeinsamen Kirchenbesuchen hatte sich nach kurzer Zeit ein kleines Ritual etabliert: Man traf sich immer in derselben Bank, der vierten von vorne, rechte Seite. Die Strecke vom Parkplatz bis hierher war für Thomas gerade noch mit Hilfe eines Rollators zu bewältigen, den er im Mittelgang parkte, um dann den äußeren Platz der Kirchenbank einzunehmen. Mike war in aller Regel schon da; man begrüßte sich kurz, und nun begann der liturgiekundige Thomas, dem „Neuling“ Mike mit kleinen, geflüsterten Tipps den Ablauf der Messe zu erläutern, was der Adept in liebevoller Hingabe zu seinem Freund geduldig über sich ergehen ließ. Besonders innig aber traf man sich im Gesang, denn beide Freunde waren leidenschaftliche und gute Sänger, wenngleich Mike die schrägen Klänge einer Selbstbestimmtheit und wilde Lebenslust vermittelnden Rockgitarre entschieden vertrauter waren als die staubfreien Töne einer Orgel, deren Dröhnen ihm eher dazu geeignet schien, den unter ihr Singenden Gottes Übermacht sinnfällig werden zu lassen.

Dies waren die intensivsten Moment zwischen ihnen. Mike ging beim Betreten der Kirche absichtlich an den ausliegenden Gesangbüchern vorbei, ohne eines mitzunehmen, weil er wusste, dass Thomas sein eigenes in Leder gebundenes Exemplar mitbringen würde. Und dann rückten sie zusammen – Thomas hielt sein Buch so, dass beide den Text lesen konnten – und schmetterten „Lobe den Herrn, meine Seele ...“, wobei Mike sorgfältig darauf achtete, dass er nicht zu sehr ins Phrasieren der vorgeschlagenen Tonfolgen verfiel, um „die Solonummer Gott zu überlassen“, wie er sich manchmal selbst ermuntern musste, um seine Reflexe unter Kontrolle zu halten.
„Freundschaft geht ihre eigenen Wege“ dachte er oft nach solchen Zusammenkünften – und manches Mal war nach den Begegnungen mit seinem Freund in dieser sehr speziellen Umgebung die Frage in ihm aufgestiegen und drängend geworden, ob er mit seinem bisherigen Verständnis die Tiefe eines Phänomens gründlich genug auslotete, das die Gläubigen hier „Gott“ nannten. Mike hatte kein klares Gefühl davon, was das eigentlich sei, respektierte aber die Sehnsucht der Menschen, sich mit ihren Sorgen an eine höhere Macht wenden zu können, einer Sehnsucht, von der er sich  eingestehen musste, dass er sie auch von sich selbst kannte.

Heute war Thomas, der sonst immer absolut pünktlich war, nicht zu „ihrer“ Bank gekommen, und die Messe hatte schon begonnen, als Mike ihn endlich sah, wie er auf der anderen Seite des Kirchenschiffs im Rollstuhl von seiner Frau ganz nach vorne in ein Areal seitlich des Altarraums gerollt wurde, und obgleich Mike wusste, dass Thomas seit einiger Zeit einen Rollstuhl besaß, sah er ihn doch jetzt zum ersten Mal darin sitzen und fühlte, wie ein gewaltiges Unbehagen ihn erfasste.
Ein Strudel schien sich seiner Gedanken der Freude auf das Wiedersehen und das kleine Ritual zu bemächtigen und sie in das Vakuum zu ziehen, das von dem leeren Platz neben ihm ausging, wo sie sich in einer ungreifbaren Schwärze verlieren wollten.
Es war ja absehbar gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem Thomas nicht mehr würde gehen können, aber  jetzt hatte dieser Anblick Mike doch wie überfallen, er fühlte eine Ohnmacht von einer Intensität, wie er sie nur selten empfunden hatte. Es gelang ihm nicht, sich dem Sog zu entziehen, der nach unten, nach unten, und immer weiter hinunter zog und zog und seine ganze Person, sein Ich, sein Fühlen und Denken mit sich nehmen wollte, das zunächst noch versuchte, das Schicksal des Freundes in seiner Aussichtslosigkeit zu umkreisen, dann aber weitersank zu all seinem eigenen Scheitern und seiner eigenen Ungewissheit … bis alles zusammenlief und sich verdichtete an eben jenem tiefsten Punkt des Strudels, wo Schmerz, Angst und Ohnmacht jedes Lächeln auslöschten und zusammenfielen zu etwas Ungreifbarem …. und da fühlte er, wie er zum ersten Mal in seinem Leben genau an diesem Punkt, an dem er gewohnt war, entschieden die Tür zuzuschlagen vor etwas, das er eigentlich gar nicht kennenlernen wollte ... wie er sich genau hier anders entschied und … aufgab. Etwas in ihm sagte ein ganz einfaches „Ja“: dann lass' ich es eben geschehen ...

Im selben Moment wurde er der roten Jacke neben sich gewahr, die das Vakuum wieder mit  Leben erfüllte und ihm einen Moment lang erschien wie eine frische Rose auf dem Grab seiner Gedanken. Die Rose hatte ein bezauberndes Gesicht, trug ein weißes Kopftuch und blätterte eifrig in ihrem Gesangbuch, um die Seite aufzuschlagen, die an der Wand neben dem Altarraum in Leuchtziffern angezeigt wurde. Mike wusste, dass die Gemeinde dieser Kirche Anlaufstelle für syrische Flüchtlinge war, die wegen ihres christlichen Glaubens in ihrer Heimat verfolgt wurden. Aus den Augenwinkeln riskierte er ein paar Blicke zu seiner überraschend aufgetauchten Nachbarin, die jetzt einigermaßen verzweifelt versuchte, den Text des Liedes so schnell zu entschlüsseln, dass sie wenigstens partiell in den Gesang einstimmen konnte.
Ihr Gesicht glühte vor Eifer und strahlte vor Freude bei jedem mitgesungenem Wort, aber dahinter meinte Mike auch Reflexe des Schreckens und der Grausamkeit, des Überlebenswillens und vor allem einer unbeantworteten, verstummten Frage zu erkennen.

Mike hatte auch diesmal, in der Annahme, er werde Thomas wie üblich treffen, kein Gesangbuch mitgenommen und sah sich in einer ähnlichen Lage wie seine Nachbarin: auch er konnte das Lied nur bruchstückhaft mitsingen, wobei ihm zwar half, dass er als geübter Sänger den Text derart verschleifen konnte, dass er damit seiner unmittelbaren Umgebung den Eindruck lückenloser Textsicherheit vermittelte – aber befriedigend war die Situation für ihn nicht. Schließlich gab er sich einen Ruck, stupste die Rose neben sich mit dem Ellbogen an, was eine kleine Delle in ihren Blütenblättern hinterließ, und rückte ihr mit einer dezenten, auffordernden Kopfbewegung in Richtung Gesangbuch ein wenig näher.
„Gib mir Liebe ins Herz …“ … ab der Wiederholung der ersten Strophe des Liedes sangen
die beiden nun einträchtig zusammen, textgetreu und aus vollem Halse … „... du selbst bist das Licht, das erleuchtet ...“ … wobei Mike wiederum auf seine Neigung zur freien Interpretation zugunsten eines behutsamen Vorsingens verzichtete, auf dass die ihr gesamtes Sensorium auf ihn ausrichtende Blume Syriens sich gesanglich gut bei ihm einhängen konnte … „darum scheine du nun selbst durch mich“.

„Miriam, ich heiße Miriam!“, mit einem Lächeln verabschiedete sich – noch während das gemeinsam gesungene Schlusslied verklang – die nach einem glücklichen Erlebnis duftende Erlösung seines Vakuums, und Mike antworte ihr mit der Trockenheit desjenigen, der die Situation derzeit nicht richtig einordnen kann, aber dringend eine sozial verträgliche Formel braucht: „Danke. Ich heiße Mike“, rief der bereits Weggehenden aber noch ein „Auf Wiedersehen“ nach, während er bereits mit den Augen nach Thomas suchte, den er schließlich kurz vor dem Ausgang in seinem Rollstuhl entdeckte. Im selben Moment schaute auch Thomas zu seinem Freund herüber und ihre Blicke begegneten sich in einer Intensität, als stünden sie direkt voreinander. Thomas hielt seinen Rollstuhl an und drehte sich mit einiger Mühe ganz in Richtung „ihrer“ Kirchenbank, neben der Mike immer noch stand. Er zog das vertraute Gesangbuch hervor und hielt es in einer Geste gespielter Empörung ob der bloßen Möglichkeit in die Höhe, Mike könne ohne seine Hilfe auf das Singen gänzlich verzichtet haben.
Ein Lächeln ging über Mikes Gesicht, als er zur Antwort seine Handflächen nach oben drehend und mit einer Miene vollkommener Unschuld die Arme leicht anhob, um dem Freund mit dieser Demonstration seiner Verblüfftheit über einen solch abwegigen Verdacht den Beweis seiner absolut lauteren und loyalen jüngsten Vergangenheit entgegenzuhalten.
Thomas' Replik war von einem deutlich breiteren Grinsen begleitet, als er seinen zweiten Arm ebenfalls nach oben hob, um nun beide Arme - das Gesangbuch in der einen Hand und den Daumen der anderen nach oben gestreckt - in magischen Bewegungen hin - und herzuführen, wobei für den, der Augen hatte, um zu sehen und Ohren, um zu hören, der Daumen sich in ein brennendes Feuerzeug verwandelte und Mike für einen mirakulösen Moment auf der umjubelten Bühne seiner Leidenschaft für den Freund ein paar verwegene Riffs auf der Gitarre spielte.

Dann verbargen die hinausströmenden Menschen Thomas vor Mikes Augen, und er ließ sich schließlich ebenfalls mitziehen in Richtung Ausgang. Mitten im Gedröhn der Orgel, die den Auszug der Kirchenbesucher mit ihren mächtigen Klängen begleitete und noch einmal alles gab, um zu vermitteln, wer es war, der in diesem Raum die Musik machte, meinte er einen ganz leisen, zarten Ton zu hören, der sich nicht stören ließ von dem ohrenbetäubenden Lärm, der da von der Empore wie ein überwältigendes Naturereignis auf die Hinausgehenden herunterbrach, sich vielmehr auf wunderbare Weise einfügte und aus dem Lärm für Mikes Empfinden wieder eine Musik werden ließ, deren innere Harmonie eher aus seinem eigenen Herzen zu kommen schien als von den Orgelpfeifen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter schaute er noch einmal in Richtung Altarraum zu der Jesusfigur hinauf, dem die Gläubigen jetzt den Rücken zuwandten, und da schien sie ihm ganz leicht von eben diesem Ton zu vibrieren wie die zart angeschlagene tiefe E-Saite seiner Gitarre … und als er sich wieder nach vorne wandte, dem Ausgang zu, hatte er für einen stillen, die Zeit nicht kennenden Moment seinen Freund Thomas vor Augen, wie er mit einem vollkommen gesunden Körper, ganz so, wie er ihn von früher kannte, auf ihn zukam, um ihn zu umarmen.

Draußen traf er Thomas nicht mehr an, er musste wohl schon nach Hause gefahren sein, Mike würde ihn später anrufen. Sicherheitshalber wartete er aber noch zwanzig Minuten vor der Kirche, und stand schließlich ganz allein zwischen den hohen Bäumen, die das Portal der Kirche säumten. Wieder empfand er diese Leere … aber diesmal zog sie nicht nach unten, sondern war wie gehalten von einer Art ruhiger Anwesenheit, die von seinen Befürchtungen und ängstlichen Gedanken ihrer wundersam wortlosen, ungreifbaren und doch für ihn so klar zu empfindenden Bedeutung
nicht beraubt werden konnte, und ein friedliches Gefühl machte sich in ihm breit, in dem eine helle Freude lag darüber, dass das Wesentliche zwischen ihm und seinem geliebten Freund durch nichts zu brechen war.



                                                                                                                                                        *


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                                                             HINTER GLAS

26/2/2017

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Plötzlich war da eine Art Glaswand zwischen ihnen, alles Vertraute war wie weggeblasen, eine Eiseskälte kroch in ihr hoch und strömte mit einem leisen Sirren über ihre Haut nach außen, wo sie an dem Glas, das die Nähe zwischen ihnen ersetzt hatte, kleine Eisblumen bildete, die sie sogar hätte schön finden können, wenn nicht so viel auf dem Spiel gestanden hätte …

„Wir müssen Sie nach Lage der Dinge jetzt leider doch operieren“ hatte der Arzt gerade gesagt, und hatte sie damit auf dem falschen Fuß erwischt: wie vom Blitz getroffen saß sie da. Als die Gedanken wiederkamen, versuchte sie sofort, irgendeine Ordnung in sie hineinzubringen. Alles schien doch gut zu laufen, ihr kleines Problem heilte fröhlich vor sich hin, und gestern die Routineuntersuchung … nicht einmal als blasser  Gedanke war in ihr die Befürchtung aufgestiegen, dass dabei irgend etwas Beunruhigendes herauskommen könnte.

Marie blickte ihrem Arzt mitten in die Augen, deren Ausdruck sie zu diesem Zeitpunkt  uninterpretiert ließ, noch hatte sie keinen festen Boden unter den Füßen und fürchtete um ihre Kontrolle. Sie waren sich durch die wenigen Gespräche während der vergangenen Begegnungen näher gekommen, auch und vor allem in ihrer beider Auffassung von der heilsamen Wirkung der Leichtigkeit und Freundlichkeit, mit der man gesundheitliche Probleme anschauen sollte. Über die inneren Kräfte der Heilung war viel gesprochen worden, und wenn auch Marie gedanklich in dieser Hinsicht wesentlich weiter ging als ihr Arzt, so war doch auf einer gewissen Ebene ein Einvernehmen spürbar gewesen, das zu eben jener Vertrautheit geführt hatte, die jetzt den plötzlichen Kältetod gestorben zu sein schien.

Operation! Nicht die Tatsache, operiert werden zu sollen an sich war so schockierend für Marie, sondern die unvorbereitete Konfrontation mit dem Willen des Arztes, der mit dem ihren nicht zu vereinen war: sie würde sich nicht operieren lassen, dazu gab es in ihr ein eindeutiges „Nein“, das immer dann unmittelbar und klar in ihr die Antwort gewesen war, wenn sie in den vergangenen Wochen über eine solche Situation nachgedacht hatte, wie sie jetzt eingetreten war. Dieses „Nein“ hatte sich wie ein ganz schlichtes „Ja“ angefühlt zu einem guten Weg.
Sie würde sich jetzt gerade machen müssen, um ihren Willen durchzusetzen, und sie wusste, dass es dafür nötig war, sich von der Reaktion des Arztes auf ihre Weigerung vollkommen unabhängig zu machen. Gleichwohl merkte Marie, wie sie anfing, zwischen den Eisblumen Verbindungslinien zu ziehen, wie sie Konstellationen erfassen wollte und mögliche Szenarien durchzuspielen versuchte in dem verzweifelten Bemühen, wenigstens etwas von dem Wohlwollen des Arztes für sie zu retten, wenn sie jetzt gleich „Nein“ sagen würde.

Wie lange schauten sie einander schon an? Zehn Minuten? Eine Stunde? Eine Ewigkeit? Hätte man die Zeit gemessen mit einem unbestechlichen Chronometer, wären wahrscheinlich nur zehn, höchstens fünfzehn Sekunden dabei herausgekommen.
Sein Blick schien ihr hinter der Glaswand jetzt wie lauernd, freundlich zwar, aber auf entschiedene Distanz gegangen zu ihr: dort saß der Experte, hier die Beurteilte, und die Angst, die in dieser Situation enthalten war, gehörte, so schien sein Blick ihr mahnend zu sagen, definitiv auf ihre Seite der Wand.

Und dann … ein Moment der Erinnerung … an eine Alternative …  und sie ließ einfach alles los: die Eisblumen, all die Verbindungslinien, die sie zwischen ihnen gezogen hatte und die das Glas schon fast undurchsichtig hatten werden lassen, die Glaswand selbst, die allein sie zwischen sich und ihren Arzt aufgerichtet hatte, was ihr überdeutlich wurde, als sie sie losließ …  all das fiel einfach von ihr ab.

Und nur noch ein Gedanke schien zwischen ihr und dem Arzt zu stehen: In DIR IST keine Angst!

Hatte sie diesen Gedanken gedacht oder er? Und was war gemeint mit diesem „DU“? Der Arzt, die Operation, die Hierarchie der Situation, sie selbst? … Wie ein letzter Eishauch durchzog sie diese Frage nach dem Ort des DU, ein Hauch der Kälte, der aus ihr wich und kein Medium mehr fand, Gestalt anzunehmen, sich nur noch verströmte, um der Wärme des Vertrauens wieder Platz zu machen, die sie für einen Moment hinter ihre Glaswand verbannt hatte.

„Es sei denn“, hörte sie ihren Arzt freundlich sagen, „Sie haben das sichere Gefühl, eine Operation sei für Sie nicht die richtige Maßnahme, manchmal kennen die Patienten ja den besseren Weg als ihr Arzt. Dann würde ich selbstverständlich voll hinter Ihnen stehen!“.
Er hatte es schon gewusst. Und sie musste ihr „Nein“ nicht einmal selbst aussprechen: „Ich sehe Ihnen ja schon an, wie Ihre Antwort ausfällt“, lächelte er, und ihr blieb nur ein wortloses Nicken, in dem sich sein Lächeln niederließ und zu ihrem wurde.

Überglücklich verließ sie die Praxis, berührt von der Einfachheit der Lösung eines Problems, das im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht existent gewesen war. „Leichtigkeit“ und „Freundlichkeit“: wie eine Vorbereitung auf diesen einen Moment zwischen Arzt und Patientin wirkten jetzt die Gespräche auf sie, die sie zuvor geführt hatten. Und immer noch war der Raum um sie offen und weit.

                                                                                                                                                *

Ihr Blick fiel auf einen Bettler, der an der Straßenecke hockte wie in einen endgültigen Stupor versunken. In ihrem Gefühl, die Welt umarmen zu wollen, ging sie zu ihm hin und legte ihm eine Münze in seinen Pappbecher. Da hob der Mann den Kopf, blickte sie an und streckte ihr die Hand hin, um sich zu bedanken. Sie nahm seine Hand, die übersät war mit Dutzenden kleiner Wunden und sich anfühlte wie ein lebloses Stück rissigen Holzes, derb und scheinbar undurchdringlich für jedes Gefühl, als hätte sie seit langem nichts Lebendiges mehr berührt.
Die Hand schloss sich um die ihre, und sie ließ es geschehen.
Jetzt schien der Mann sie wieder freigeben zu wollen, aber er öffnete seine Hand nur halb, nahm  jetzt behutsam Maries Finger, um mit unfassbarem Zartgefühl ihren Handrücken zu seinen Lippen zu führen und ihn zu küssen. Diese Lippen hatten ganz offensichtlich lange, allzu lange nur noch dazu gedient, sein lückenhaftes und faulendes Gebiss zu verbergen, und sie waren ebenso aufgerissen wie seine Hände.
Sein Kuss aber war nicht von dieser Welt, und Marie nahm in an als das, was er war: eins der Wunder, die geschehen, wenn die Glaswand der Zweifel an der Anwesenheit einer ewigen VERTRAUTHEIT zwischen uns einfach nur … übersehen wird.

                                                                                                                                                      *

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                                                                          PIPA

5/2/2017

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Gestern hatte ich das besondere Vergnügen und die einmalige Gelegenheit, von einer höchst attraktiven Dame einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, in dem ich feststellen durfte, dass ich – „und das als Mann“ – offensichtlich über ein „zauberhaftes Lächeln“ verfüge, was mich nicht nur erstaunte und sehr glücklich machte, sondern darüber hinaus am heimischen Wandspiegel für mich absolut nicht mehr nachvollziehbar war und dadurch die geheimnisvolle Konnotation des Einmaligen bekam.

Aber der Reihe nach:

Ich konnte mal wieder auf einem kleinen, eigentlich ziellosen Rundgang „durchs Dorf“ der Versuchung nicht widerstehen, in den meiner Wohnung nahegelegenen Edeka-Markt einzutauchen, um dort einen dieser fast schon unheimlich schmackhaften Tintenfischsesamsalate käuflich zu erwerben, dreifünfundneunzig, man gönnt sich ja sonst nichts. Das kann ich im Blindflug, wie man der bisherigen Schilderung vielleicht auch schon entnehmen kann.

Ich stehe also nahezu unmittelbar nach dem Einzug in den Supermarkt an einer der Kassen, meine kleine Trophäe des Lustprinzips in der Hand, bereit zu bezahlen.
Eigentlich sind gerade noch drei Kassen offen gewesen, aber just in dem Moment, als ich erscheine, fängt eine der Kassiererinnen mit einer Art Inventur an, die damit beginnt, ein Schild mit der Aufschrift „Kasse geschlossen“ aufzustellen und die zweite verlässt gleich ganz ihren Arbeitsplatz.
Aber macht ja nichts. Stellen wir uns eben hier an. Es geht auch zügig weiter, prima. Jetzt fängt die Dame direkt vor mir an,  ihren – das muss ich allerdings sagen – üppig befüllten Einkaufswagen auszuräumen, vorsichtig so von oben runter, in der ersten Phase muss sie sorgsam darauf achten, dass die ausgeklügelte Architektur des Gebäudes nicht zusammenbricht und dessen Einzelteile außenbords gehen. Also sie hat schon zu tun damit. Die Jüngste ist sie auch nicht mehr, und darüber entsteht dann zunächst ein kleines, intimes Gespräch mit der Kassiererin, die ich als ohnehin sehr leutselig kenne und die ganz offensichtlich mit der betreffenden Dame schon lange vertraut ist, sie nennt sie schon mal „meine Süße“ oder „meine Kleine“ oder „Schnucki“. Ja, also die Luft, das wird auch nicht besser im Alter, sagt Schnucki zum Beispiel und dass sie ja immerhin auch schon achtzig sei. Das Ganze aber mit einer wunderbaren Heiterkeit, während sie in aller Seelenruhe ihre Sachen auf das Kassenband schaufelt.
Jetzt legt sie eine dieser Rabattkarten auf das Bezahlfeld, wenn es denn eine solche ist, so genau erschließt sich mir das nicht. In jedem Fall ist sie sehr bunt und ich lese einen wundervollen Namen darauf, der ja doch wahrscheinlich ihrer ist, obgleich ich das zu diesem Zeitpunkt auch nicht sicher wissen kann.

Inzwischen bin ich ja bereits aus dieser Geschichte längst wieder raus, bin auch im heimischen Spiegeltest bereits durchgefallen und habe mir erlaubt, den Namen zu gurgeln, wie man heute sagt, und ich habe feststellen dürfen, dass es sich tatsächlich um den Namen der besagten Dame handelt – eine Hamburger Malerin und Bildhauerin, hat mir das allwissende Netz zugeflüstert – die da in meiner kleinen Geschichte gerade vor mir steht und mit dem Ausräumen ihres Monatseinkaufs zu Ende gekommen ist.

„Marion Pipa von Froreich“ lese ich auf der „Rabattkarte“ und höre, wie diese unsere Kassiererin – welche ihr in aller Ruhe geholfen hat, den Bezahlvorgang erfolgreich über die Bühne zu bringen – „Mickymaus“ nennt und ein höchst ausführliches, geradezu zärtlich zu nennendes Verabschiedungsritual einleitet, an dessen Ende eine tiefe Verbeugung und ein „Ich wünsch‘ dir einen wunderschönen Tag“ seitens Pipa steht. Jetzt aber – von wegen „Ende“ – wendet sie sich mir zu, der ich in der fälschlichen Annahme, von ihr gar nicht bemerkt zu werden, dieser entzückenden Begegnung lediglich als stiller Beobachter beigewohnt habe.
„Und Ihnen auch“ sagt sie mir freundlich ins Gesicht und dann kommt er, dieser Satz, der mir seitdem sehr zu denken gibt so in die Richtung, was es denn eigentlich sei, das uns den Spiegel vorhält, auf dass wir uns erkennen:
„Ein so bezauberndes Lächeln“, sagt sie, „und das von einem Mann!“, wobei sie drei Finger zusammen nimmt und mit spitzen Lippen deren Kuppen küsst, woraufhin die Hand sich öffnet in einer Geste, die sagen will: „Ganz köstlich!“

Da bin ich natürlich von den Socken, breite in aller Wehrlosigkeit die Arme aus und verkünde wahrheitsgemäß: „Mein Tag ist gerettet!“ Dann geh‘ ich auf sie zu und streich‘ ihr mal eben meinen herzlich empfundenen Dank über den Arm. Dabei bemerkt sie, dass ich lediglich mit einem kleinen Tintenfischsesamsalat ausgerüstet auf die Chance warte, bezahlen zu dürfen und entschuldigt sich in gespieltem Entsetzen:
„Also wenn ich gewusst hätte, dass sie nur das eine Teil da haben, dann hätte ich Sie ja …“
„Aber nein, dann hätte ich Sie ja nicht erleben dürfen!“ antworte ich aufrichtig und sie ist ganz baff von der Einfachheit dieser Logik. „Stimmt“, sagt sie nur, nun ihrerseits entwaffnet und wehrlos in der Dankbarkeit des Augenblicks. Und es trennen sich lachend und froh Dreie, denen der Alltag eine solch wundervolle Gelegenheit eingeräumt hat.

Echt, Leute, das musste ich einfach erzählen. Pipa, ich liebe dich!

                                                                                                                                                       *

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                                                             NUR DIE RUHE

30/1/2017

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Irgendetwas in mir will ein großes Ding draus machen: „Das ist doch ungeheuer, was da grade passiert ist“, tönt es, „unglaublich, phänomenal, bizarr!“ –  nur zu gut kenn’ ich es, dies „Irgendetwas“, das immerzu darauf lauert, groß rauszukommen, Situationen für sich auszunutzen, Überlegenheiten herzustellen, den genialen Allesberechner, diesen vorlauten Mieter meiner Seele, dem ich längst gekündigt habe, der mir aber immer noch treu hinterherläuft wie ein Hund – wobei allerdings der Abstand von Tag zu Tag wächst, den er zu mir hält, und so überhöre ich die leise Dankbarkeit nicht, die mich durchzieht wie der sanfte Basston eines schlichten, unkomplizierten, aber ins Unendliche sich entfaltenden Klanges, als ich mit meinem Wagen aus eben jenem Tor wieder hinausfahre, durch das ich vor etwa einer halben Stunde schlecht gelaunt und voller Zweifel in die Halle einer Autowerkstatt eingefahren war.

Kurz zuvor war mir an einem der lautesten, unschönsten und von den unerbittlich drängenden, hektischen Verkehrsbewegungen zweier sich hier kreuzender Ausfallstraßen beherrschten Orte Hamburgs, nahe den Elbbrücken, in der Dunkelheit des winterlichen Berufsverkehrs eines der Abblendlichter ausgefallen. Normalerweise hätte ich vielleicht gedacht: ‚Halb hell ist besser als ganz dunkel’, aber mein Gemüt hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits von einem Zweifel gefangen nehmen lassen, der solche Aufmunterungssprüche nicht mehr hatte akzeptieren wollen. Gestern Abend war ich von einem guten Freund angerufen worden: es gehe ihm nicht gut. Seit langem schon leidet er unter den Folgen der Verengung seiner Herzkranzgefäße und muss sich regelmäßig zur Kontrolle bei einem Arzt einfinden. Die Beschwerden, die er in unserem Gespräch vorgetragen hatte, waren ihm durchaus vertraut, sie hatten ihn nicht sehr beunruhigt, er hatte lediglich von mir wissen wollen, ob ich ihm raten würde, dennoch gleich morgen zum Arzt zu gehen. Ich hatte das mit einem guten Gefühl bejaht, und es wurde vereinbart, dass wir uns heute Abend wieder sprechen wollten. An diesem Morgen aber hatten sich Zweifel bei mir eingeschlichen: was, wenn der Freund seine Beschwerden heruntergespielt hatte, was, wenn er besser gleich, noch am Abend, untersucht worden wäre, was, wenn …
Während meiner Fahrt zur Arbeit waren die Zweifel angewachsen und quälend geworden, und ich hatte beschlossen, bei nächster Gelegenheit zu halten und den Freund anzurufen, als mir, ja, so kann man wohl sagen: das Licht ausgegangen war. Die Werkstatt, die ich von einem mehrere Jahre zurückliegenden Besuch her kenne, hatte ich, als das passiert war, schon sehen können, und es war mir gerade noch rechtzeitig gelungen, mich einzuordnen, um auf den Hof des Werkstattgeländes abbiegen zu können. Vor dem geschlossenen Rolltor der Halle hatten zwei Mechaniker gestanden und vor ihrem Arbeitsbeginn noch genüsslich ihre Zigaretten geraucht. „Ich bin wohl ein bisschen früh?“, hatte ich einen der Männer gefragt, der überraschend freundlich geantwortet hatte: „Kein Problem, fahren Sie rein!“, während von seinem Kollegen das Rolltor geöffnet worden war.

Und dann fuhr ich also in die Halle hinein, die sich riesig vor mir öffnete – ich hatte das alles viel kleiner in Erinnerung! Auf der dem Tor gegenüberliegenden Seite sah ich die Durchfahrt zu mindestens einer weiteren Halle, rechts ging eine Eisentreppe hinauf zu einem in halber Höhe des Raumes wie schwebenden, großen, rundum verglasten Büroraum, und hinter und zwischen den zahlreichen Hebebühnen überall Autoteile, Werkzeug, Ölkanister und was hier sonst noch gebraucht wurde, und natürlich zahlreiche Autos, die auf ihre Reparatur warteten.
Kein ungewöhnliches Bild also, auffällig war allenfalls der Anblick der Männer: Die Mechaniker, alle wohl türkischer Abstammung – vielleicht waren es fünfzehn, die ich auf den ersten Blick sah – hatten ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Müde standen sie einzeln oder in kleinen Grüppchen herum, schlürften ihren Kaffee oder wechselten ein paar Worte miteinander. Nur gleich links, neben dem Rolltor, ganz in der Nähe der wunderbar einladend blubbernden Kaffeemaschine, hielt sich eine größere Gruppe von sieben oder acht Männern auf, die um den offensichtlich einzigen Stuhl herum einen Kreis bildeten, auf dem sich, wie ich nur flüchtig sehen konnte, ein älterer Herr mit grauen Haaren bequem ausgestreckt hatte, wohl der Seniorchef, der hier seine Audienz hielt, war meine Vermutung. Die Männer tranken gemütlich ihren Kaffee und plauderten miteinander, und irgendwie fühlte ich mich von diesem geradezu heimeligen Eindruck angezogen und lenkte meinen Wagen auf den ersten Platz direkt neben den Männern, obwohl ich ganz kurz überlegt hatte, ob es nicht klüger sei, etwas weiter entfernt von ihnen zu halten, um zu demonstrieren, dass ich bereit sei, noch zu warten, bis ihre Arbeitszeit begonnen hätte. Ich stieg aus, als einer der Männer sich aus der Gruppe löste und sehr freundlich auf mich zukam, und wir besprachen, was zu tun sei. Er stellte seinen Kaffeebecher ab und begann sofort mit der Arbeit. Derweil ging ich ein wenig auf und ab, wechselte auch hin und wieder ein paar Worte mit dem Arbeitenden, wenn mir schien, dass ihn das nicht störte – die Unsitte, Abblendlichter so einzubauen, dass man den halben Motor herausnehmen müsse, um sie zu wechseln, die Auftragslage im Allgemeinen, das Wetter im Speziellen und dergleichen – ging wieder auf und ab, schaute hierhin und dorthin – und merkte nichts. Ich merkte einfach nichts! Im Nachhinein ist das für mich noch das Erstaunlichste an der Situation: für mich war alles sozusagen normal, nichts wirklich Ungewöhnliches spielte sich hier ab – eine Autowerkstatt am frühen Morgen. Die Reparatur indes weitete sich etwas aus, der Mechaniker zeigte mir den Stecker des Abblendlichts, in dem die Kontakte gerostet und gebrochen und das Plastik des Sockels teilweise verschmort war, ein Anblick, der mich unangenehm  an meine Sorgen erinnerte, die mich auf der Fahrt hierher bedrängt hatten. Ich würde also noch etwas Zeit hier verbringen müssen und ging, nachdem ich einen Anruf entgegengenommen und etwa zwei Minuten telefoniert hatte, weiter auf und ab, man könnte sagen: mit der unschuldigen Wahrnehmung eines Blinden.

Etwa sieben bis acht Minuten waren jetzt seit meinem Eintreffen vergangen, als plötzlich das große Rolltor wieder aufging – einer der Männer, die mich empfangen hatten, musste es von außen geöffnet haben – und ein großer, leuchtend roter Rettungswagen der Feuerwehr ganz langsam durch das für ihn sehr enge Tor in die Halle einfuhr. Mein erster Gedanke war: ‚Auch Krankenwagen haben mal technische Probleme!’. Ich staunte noch über die Ästhetik dieses Anblicks: geradezu majestätisch stand der Rettungswagen jetzt zwischen all den schmierigen Autoteilen, Hebebühnen und seinen mehr oder minder lädierten Artgenossen.
Als aber gleich darauf ein kleinerer Notarztwagen in die Halle fuhr, begriff ich, dass hier irgendjemand größere körperliche Probleme haben musste – wahrscheinlich da hinten, dachte ich, in der zweiten Halle, in der ich jetzt auch, wie ich meinte, hektische Bewegung ausmachen konnte.

Dann aber wurde der Blinde endlich sehend: Sanitäter und Notärztin waren inzwischen ausgestiegen und eilten zügig, aber ohne jede Hektik,
… was ist das, … auf mich zu? Ich? Nein, da sind sie schon an mir vorbei, ich drehe mich um, folge ihnen mit den Augen zu der Gruppe Männer neben mir, die ihren Kreis geöffnet haben, und jetzt sehe ich erst … der alte Mann auf dem Stuhl, er hat einen Herzinfarkt erlitten, gar kein Zweifel; aschfahl sein schmerzverzerrtes Gesicht, die linke  Hand am Herzen,  kämpft er ganz offensichtlich damit, bei Bewusstsein zu bleiben! Dazu habe ich „bequem ausgestreckt“ gedacht vorhin, ich fasse es nicht: ich stehe all die Zeit direkt neben ihm oder gehe an der Gruppe vorbei,  auf und ab, telefoniere, schaue mich um, und merke nicht, dass dieser Mann um sein Leben kämpft! Wenn auch nur einer der ihn Umstehenden unruhig geworden, irgendeine Art Nervosität entstanden oder Ungeduld beim Warten auf den Krankenwagen aufgekommen, … wenn hier Angst gewesen wäre:  ich hätte es sofort gemerkt und näher hingeschaut. Ich …
... ich trat einen Schritt zurück, vollkommen absorbiert zunächst noch von dieser Situation, die wie eine Inszenierung meiner sorgenvollen Bilder um meinen Freund auf mich wirkte, unfassbar: da schien er zu sitzen, genau so, wie ich ihn in meinen schlimmsten Befürchtungen vor mir gesehen hatte, und ich hatte ihm den falschen Rat gegeben! Aber wie in einer Art gutem Zorn, der nicht gegen etwas gerichtet ist, sondern die Wahrheit vor dem Untergang bewahren will, fegte ich diesen Gedanken aus meinem Sinn: nein, das hier war nicht das Bild meiner Befürchtungen, hier war alles anders: hier war eben keine Angst! Dieser Mann hatte große Schmerzen, er war kurz vor dem Kollaps, er kämpfte –  aber er blieb dabei absolut ruhig und gesammelt. Es schien, als habe sich die Ruhe der Männer, die ihn umstanden hatten, auf ihn übertragen, ihre – wie soll man sagen – Normalität. Jeder von ihnen hätte sich leicht dieser bedrohlichen Situation entziehen, hätte einfach weggehen können. Sicherlich, der Werkstattmeister hatte dableiben müssen, vielleicht noch ein oder zwei andere, aber alle acht waren sie geblieben, hatten einen schützenden Kreis um den Kranken gebildet und damit das Beste getan, was sie hatten tun können: ihm  ihre Ruhe gegeben wie einem Bruder, den man nicht alleinlässt, wenn er in Not geraten ist.

Das war es, was ich sah, nicht das Bild meiner Furcht, sondern die Kraft, die von dieser Ruhe ausging und dem so Gehaltenen sehr wahrscheinlich das Leben rettete. Ich werde nie den Blick vergessen, mit dem sich der alte Mann, während er auf einer Trage in den Rettungswagen geschoben wurde, bei denen bedankte, die ihm das Schicksal zur Seite gestellt hatte.
Eine Weile noch stand ich mit dem Werkstattmeister zusammen, und er erzählte, dass es sich um einen Kunden handle, der es gerade noch hierher geschafft und beim Aussteigen aus seinem Wagen den Infarkt erlitten habe. Erst unmittelbar vor meinem Eintreffen habe er die Feuerwehr angerufen. Wir sahen, während er erzählte, durch die Fenster des großen Rettungswagens zu, wie Notärztin und Sanitäter sich bemühten, den Kreislauf ihres Patienten zu stabilisieren, damit man ihn würde ins Krankenhaus transportieren können, was ihnen schließlich gelang. Alle atmeten auf, als die Wagen der Feuerwehr langsam aus der Halle rollten und einer der Sanitäter den Daumen hochhielt, um uns zu sagen, dass jedenfalls bis hierhin alles gutgegangen sei.

Der Meister nahm kein Geld von mir: „Das machen wir heute mal so“, sagte er einfach, und ich nahm das Geschenk an wie ein Verbündeter, ein Mitwisser um etwas Großes, Unbezahlbares, das immer noch für mich spürbar in dieser Halle anwesend war.

Und jetzt, da ich also wieder hinausfahre in den von seiner Gnadenlosigkeit halbverrückten Straßenverkehr – das Martinshorn ist in der Ferne noch zu hören – weitet sich die Dankbarkeit in mir aus, strömt als Gefühl großen Glücks durch mich hindurch und bis hin zu meinem Freund, an den mich nun nicht mehr meine ängstliche Sorge bindet, sondern vielmehr jene Ruhe, aus der das Vertrauen und die gute Kraft gekommen sind, die ich hier erlebt habe, …
… und die ich wohl erleben sollte, bevor ich ihn jetzt gleich anrufen werde.

                                                                                                                                                              *

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                DER ENGEN ANGST BANGE FRAGE NACH DER WEITE

12/11/2016

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„Haben Sie Angst in engen Räumen?“, war sie von der netten Arzthelferin gefragt worden und  wahrheitsgemäß hatte sie mit einem freundlichen „Nein“ geantwortet. Jetzt saß Marie schon seit einer halben Stunde im Wartezimmer einer radiologischen Praxis, wo sie wegen eines vermutlichen Bandscheibenproblems in die „Röhre“ sollte, in den sogenannten Magnetresonanztomographen, welcher Auskunft darüber geben sollte, ob die Strukturen rund um ihre Wirbelsäule noch an einem sinnvollen Zusammenspiel interessiert waren oder begonnen hatten, ihre eigenen Wege zu gehen. Und in dieser Röhre war es eben eng. Und laut. Davon hatte sie am Vorabend noch viel im Internet gelesen – einschließlich der Horrorgeschichten, die sich über einem solchen Thema scheinbar naturgemäß sammeln – sich aber von all den aufgeregten Berichten nicht beunruhigen lassen, denn sie war sich sicher, dass sie keine Angst haben werde.

Den engen, angstmachenden Raum hatte sie lange schon – man könnte sagen: durchschaut. Fünfundzwanzig Jahre lag es jetzt zurück, dass sie nach einer für sie sehr schwierigen Zeit, als gerade alle Dinge wieder einigermaßen ins Lot gebracht waren, in aller Ausführlichkeit das kennengelernt hatte, was man seltsamerweise „Platzangst“ nannte, also die Angst, die sich in beengenden Situationen einstellen konnte: in Aufzügen, im Kino, im Konzert, im Flugzeug oder – Marie schmunzelte – natürlich auch in solch einer Röhre, die sie heute erwartete.

Einmal war sie damals mitten im Elbtunnel mit ihrem Wagen in einen Stau geraten und hatte anhalten müssen. Aus ihrer Angst war Panik geworden und sie hatte sich gefühlt, als werde sie gleich den Verstand verlieren. Ausgerechnet in dieser Situation war ihr eine Stelle aus einem Buch des Meisters der Psycho-Horror-Literatur, Stephen King, eingefallen: als nämlich in „The Green Mile“ der unschuldig zum Tode verurteilte sanftmütige „Coffey“ während seines letzten Ganges zum Ort seiner Hinrichtung auf die Knie geht und zu dem betet, von dem er die Kraft für seine Sanftmut und seine heilenden Fähigkeiten empfing. Und Marie hatte dieses Gebet, obgleich sie die religiöse Tradition des Betens schon in ihrer Kindheit hinter sich gelassen zu haben glaubte, so, wie sie es aus dem Buch erinnert hatte, in ihrer Not nachgebetet:

                                                                                                                              „Kleines Kind Jesus,
                                                                                                                                  Sanft und gelind,
                                                                                                                  Bete für mich, das Waisenkind;
                                                                                                      Sei mein Herz, sei die Kraft meiner Hände,
                                                                                                                     Sei Du bei mir ohne Ende“ (1)


Die Angst war aus ihr verraucht, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. Und sie war nicht einfach nur verschwunden, sondern hatte eine Art Kraft hinterlassen, die ihr in dieser Art gleichzeitig unbekannt und urvertraut erschienen war: derart still, einfach und alles umfassend, dass sie, die ihr so fein und unemotional vorgekommen war, nicht den leisesten Zweifel mehr in ihr hatte aufkommen lassen, in absoluter Geborgenheit zu sein.
Seitdem, seit diesem einen, kurzen Erlebnis, wusste Marie unvergesslich, dass die Angst nur eine Frage war. Für die es eine Antwort gab.

Zwei Monate hatten ihre Ängste danach noch angehalten, so als habe sie ein paar verbleibende Stationen abgehen müssen, um dort ebenfalls eine Antwort zu geben, die nicht Flucht oder Aggression war. Als letzte dieser Stationen hatte sie die Platzangst noch einmal in einem Flugzeug heimgesucht, hoch über den Wolken. Da hatte sie schon lächeln können über die Frage und Antwort gegeben, indem sie sich die banale Tatsache schonungslos eingestanden hatte, dass sie sich an diesem Ort – was ihr körperliches Leben anging – der Technik einer Maschine und dem Können von ihr unbekannten Menschen vollkommen ausgeliefert hatte. Gleichzeitig aber war in ihr das sichere Gefühl zu finden gewesen, dass dieser ausgelieferte Körper nicht ihr Eigentliches war, sie nicht in Gänze ausmachte, und sie hatte einfach nur aus dem Fenster geschaut, sich in Gottes Hand gegeben und damit zugelassen, dass sich die Angst des Ausgeliefertseins in die Kraft einer ruhigen Gewissheit verwandelt hatte.
Seitdem war die Platzangst nicht nur ausgeblieben, sondern es hatte sich in Marie eine zunehmende Sicherheit entwickelt, dass sie ihr jederzeit die andere, die wahre Antwort geben konnte.

                                                                                                                                                    *

Endlich wurde sie aufgerufen und von der ausgesprochen netten Arzthelferin in die Umkleidekabine geführt, wo auch das kurze Gespräch mit dem Arzt stattfand, und von dort aus in den Raum, in dem die Untersuchung durchgeführt werden sollte. Sie musste sich auf eine Liege legen, auf welcher sie dann langsam ins Innere der Röhre geschoben wurde, bis auch ihr Kopf gänzlich eingetaucht war in die enge Welt der sie jetzt vollkommen umschließenden Technik. „Ist eigentlich die großartige Gelegenheit, sich einmal im Leben wie ein ungebackenes Brot zu fühlen“, hatte sie im Hineinfahren noch gedacht und war doch jetzt beeindruckt von der in der Tat sehr bedrängenden Enge. Die Geräusche, die der Apparat zu produzieren begann, verstärkten diesen Eindruck noch, indem sie ein akustisches Chaos sondergleichen erzeugten. Sie spielte Cello und hatte ein für musikalische Spannungen empfindsames Gehör, aber hier konnte man beim besten Willen nur von einer asymphonischen Kakophonie sprechen!

Wie damals im Flugzeug machte sie sich ihre Lage bewusst, dieser Enge jetzt für eine Weile ausgeliefert zu sein und außer der Klingel, die ihr von der Assistentin in die Hand gedrückt worden war, keine Möglichkeit der Kontrolle dieser Situation zu haben.
Im gleichen Moment ging ihr etwas auf, das ihr in dieser Deutlichkeit bislang noch nicht klar geworden war:
Seit ihren Erlebnissen vor fünfundzwanzig Jahren war es ihr immer weniger möglich gewesen, die Angst, wenn sie sich ihr - in welchem alltäglichen Gewand auch immer - bei sich selbst oder anderen zeigen wollte, mit irgend einer der abertausend Variationen von Flucht oder Angriff zu überspielen. Die andere Art, ihr zu begegnen, war öfter und öfter zu ihrer bevorzugten Option und ihr schließlich selbstverständlich geworden: die Frage in ihr zu hören und ihr Antwort zu geben.

Voller Dankbarkeit atmete Marie auf und verließ die enge Röhre, indem sie den Raum, der sie und die Maschine umgab, die sich da unermüdlich an ihr abarbeitete, erfühlte: obgleich sie sich sagte, dass die äußerst lauten Geräusche in dem Untersuchungsraum überall gut zu hören sein mussten, empfand sie eine wohltuende Stille. Niemand außer ihr war da, die Assistentin hatte sich hinter die Glasscheibe des angrenzenden Kontrollraums zurückgezogen. Marie genoss dieses Gefühl der Abwesenheit von Betriebsamkeit, Zielgerichtetheit und Zeitdruck und berührte alle Dinge, die sie vor ihrem Eintauchen in die Röhre in dem Raum gesehen hatte, auch das MRT-Gerät selbst, mit der Ruhe ihres Einverständnisses: alles war irgendwie an seinem rechten Ort und atmete seinen eigentlichen Sinn und seine eigentliche Bestimmung, die nichts Aussonderndes,  nichts Feindseliges und nichts Angreifendes hatten, nur eine ruhige Freundlichkeit, mit der selbst diese wesenlos scheinende Dinge Marie als ihresgleichen begrüßten.
„Das ist die Stille“ dachte sie: „nichts Äußeres … es ist ein Willkommen, das ich empfinde“, und sie ging weiter bis hinter die Glasscheibe, um der Assistentin etwas Gesellschaft zu leisten. Es fielen ihr die Berichte aus dem Internet ein, die sie am Vortag gelesen hatte, und einer dieser Geschichten folgte sie jetzt, indem sie mit der Assistentin den Kontrollraum verließ, nur kurz, wie diese dachte. Draußen aber begegneten sie ausgerechnet dem jungen Arzt, auf den die Assistentin schon lange ein Auge geworfen hatte, sie kam mit ihm ins Gespräch und vergaß darüber ihre Pflichten. Marie blieb ganz ruhig bei ihr, und als sie spürte, wie derweil die Patientin im MRT, in der die Angst aufgestiegen war, in höchste Not geriet, weil niemand auf ihr Klingeln reagierte, ging Marie zu ihr hin und berührte sie mit ihrer Stille: ‚Es gibt keinen hermetischen Raum, wir sind nicht das, was durch den Körper begrenzt wird, und wir können einander nicht verlassen!‘ Wie immer, wenn Marie in dieser Art Ruhe einer Phantasie nachging, hatte sie, obgleich ihr vollkommen klar war, dass diese Situation nur von ihr erlesen, also längst vorbei oder auch von dem Berichterstatter vielleicht sogar nur erfunden war, das sichere Gefühl, dass die Begegnung dennoch geschah, auch wenn ihr Verstand das nicht konkretisieren konnte. Sie nahm es dankbar hin so wie sie den Frieden hinnahm, der sich ihr in dieser Begegnung vermittelte.
Wie meist stellte sich, wenn sie sich derart weit geöffnet hatte, so auch jetzt das Bedürfnis ein, mit ihrem Bruder zusammenzusein, den sie sehr liebte und der vor zehn Jahren gestorben war. Diesmal sah sie keine Bilder von ihm vor sich und es wurde nichts gesprochen, aber er war da – so selbstverständlich wie damals, als er kurz nach seinem Sterben wieder zu ihr gekommen war, um sie zu trösten.
Schließlich wandte sie sich noch ihrem Mann zu, der auf ihren Anruf wartete, um von ihr zu erfahren, was denn die vorwitzige Bandscheibe angerichtet habe, und nahm ihn in den Arm.
Dann kehrte sie heiter und entspannt in die enge Röhre zurück, wo das Orchester immer noch vergeblich versuchte, seine Instrumente zu stimmen und wartete das Ende der Untersuchung ab.

                                                                                                                                                 *

Wieder im Wartezimmer, nahm sie sich eine Tasse Kaffee aus der großen Thermoskanne, die dankenswerterweise für die Patienten bereitstand, und setzte sich in die Nähe des Empfangstresens, um auf ihre Befunde zu warten. Nur langsam kehrten ihre Gedanken wieder zum Alltäglichen zurück, aber immer noch waren all ihre Poren offen und empfänglich für den Athem der Nähe, der sie durchweht hatte.

Es klingelte an der Tür und eine Frau betrat die Praxis, die ihr frappierend ähnlich sah, obgleich sie in allem größer, ausladender war als Marie: ihre Gestalt, ihre Gesten, die Art ihrer Bewegungen, die Aura, die sie umgab: alles war mächtiger, lauter und irgendwie blumiger als bei ihr selbst. Und so brachte die Frau jetzt die wenigen Schritte bis zur Anmeldung in einer Weise hinter sich, als werde sie dort als verspätete Hauptperson schon sehnlichst erwartet, ohne dass dies irgendwie unangenehm wirkte – es war einfach ihre ganz spezielle Art der Präsenz. Am Tresen der Anmeldung angelangt, nannte sie ihren Namen, woraufhin die Arzthelferin ihr Telefongespräch unterbrach – sie hatte seit einigen Minuten einer Freundin in aller Ausführlichkeit erzählt, dass sie am heutigen Halloween-Abend als Hexe unterwegs sein werde – um kurz die Formalien mit der Patientin zu klären. Diese nahm allerdings eine kleine Nebenfrage der Arzthelferin zum Anlass, einen Vorstoß zu wagen, der Marie wohlvorbereitet schien: „Ich kann Ihnen ja kurz mal einen Abriss meiner Geschichte geben“, sagte sie zum anfänglichen Entsetzen der Arzthelferin, die jedoch schon nach wenigen Worten der Frau, ebenso wie Marie bemerkte, dass hier eine wahre Erzählnot herrschte, was sie dazu bewog, das Telefongespräch zu beenden und - indem sie den Kugelschreiber aus der Hand legte und sich in ihrem Stuhl zurücklehnte - ihre Bereitschaft zu demonstrieren, zuzuhören.
Anfänglich schien die Frau genau die Geschichte erzählen zu wollen, die auch Maries Geschichte war: Plötzliche Schmerzen, zunächst für einen banalen Hexenschuss gehalten, Zweifel, der Gang zum Arzt, Verdacht auf Bandscheibenvorfall. ‚Wie sich die Bilder gleichen‘ dachte Marie noch, aber sie spürte schon hier, dass auch diese Erzählung größer, mächtiger und lauter werden würde als die ihre. Es war kein Bandscheibenvorfall, man hatte weiterdiagnostiziert, Blutungen waren entdeckt worden im Beckenbereich und schließlich die Knochenmetastasen. Jetzt sollte weitergesucht werden.
Die Erzählerin war am Ziel, das hatte in dieser Ausführlichkeit sein müssen, auch wenn sie die Dinge gleich noch einmal dem Arzt würde berichten müssen, welcher der eigentliche Adressat ihrer Krankengeschichte war, so lange hatte sie einfach nicht mehr warten können.
Die Arzthelferin nickte ihr freundlich zu und bat sie, Platz zu nehmen.

Marie atmete tief durch. Sie erkannte diesen Moment wieder, es gab eine ganz bestimmte Resonanz in ihr: die Angst machte den Versuch, sich über ihrer „kleinen“ Geschichte ins Unendliche aufzutürmen: ‚Wenn du glaubst, dass du mir entkommst, dann kennst du mich schlecht!‘ Wie oft hatte sie das schon erlebt, dass nach einer friedlichen Beantwortung der Angst irgendetwas geschah, das ein Potenzial in sich trug, diese traurige Botschaft zu vermitteln: ‚Es gibt kein Entkommen, denk‘ nicht, du habest gesiegt!‘ Und Marie hatte gelernt, dies miteinzubegreifen als notwendigen Teil ihrer friedlichen Antwort. Sie blickte der Frau, die sich inzwischen ihr gegenüber hingesetzt hatte, ins Gesicht, aber es kam kein Blickkontakt mit ihr zustande, sie schien auf gute Art erschöpft und zufrieden zu sein, für sie war für den Moment alles getan. Marie wünschte ihr im Stillen von Herzen alles Gute, sah noch einmal auf die Angst als immer nur dieselbe Frage, in welcher Form sie auch immer auftreten mochte, und gab ihr noch einmal Antwort. ‚Wir sind Eins. Du kannst dich der Liebe hingeben. Vertrau‘.
Dann nahm sie die Papiere, die ihr die Arzthelferin entgegenhielt, ließ sich von ihr eine Taxe bestellen und verließ die Praxis.

                                                                                                                                                 *

Bis zum Ausgang hatte sie einen langen Weg zurückzulegen. Die Praxis befand sich in dem palastartigen Gebäude der Alten Oberpostdirektion am Stephansplatz, das der humpelnden Wanderin zwar mit multiplen Aufzugsanlagen half, aber dennoch derart verwinkelt war, dass sie gute fünf Minuten brauchte, bis sie endlich draußen vor der Tür stand. Mehr als fünfzehn Minuten konnte sie sich derzeit wegen der erheblichen Schmerzen in ihrem Rücken nicht auf den Beinen halten und deshalb war Marie einigermaßen beunruhigt, als sie den Berufsverkehrstau bemerkte, der sich hier wegen einer Baustelle zu einem extrem zähen Stop-and-Go entwickelt hatte. Da würde es die Taxe schwer haben, durchzukommen. Fünf Minuten blieb sie auf dem Gehweg stehen, dann ging sie wieder ins Gebäude, um sich auf die Treppenstufen zu setzen, die allerdings derart kalt waren, dass sich dies als die noch schlechtere Option erwies. Sie überlegte, wieder hinaufzugehen und sich dann aus der Praxis abholen zu lassen, wollte aber noch einen letzten Versuch machen, und ging wieder hinaus. Einige Taxen waren schon an ihr vorbeigefahren und sie entschloss sich jetzt, nicht weiter auf die für sie bestellte zu warten, sondern die nächstbeste anzuhalten, die Umstände rechtfertigten das, wie sie fand.

Tatsächlich bewegte sich jetzt im Schleichgang ein Taxi in ihre Richtung und sie winkte es heran. Der Fahrer öffnete ihr von innen die Tür und begrüßte sie herzlich: sein Wagen war der von ihr bestellte und sie kannten einander: der Fahrer pflegte morgens an der Tankstelle in der Nähe ihrer Wohnung zu frühstücken, und sie waren sich dort schon oft begegnet und hatten das ein oder andere Wort miteinander gewechselt, wenn Marie dort nach dem Tanken noch eine Tasse Kaffe trank.
„Hallo, das ist ja nett, dass Sie es sind“, sprach sie ihn an und erkundigte sich gleich nach seiner Frau, von der sie wusste, dass sie nach einem schweren Verkehrsunfall seit langer Zeit im Krankenhaus lag.
„Oh, danke, dass Sie fragen“, erwiderte der Fahrer, „wir sind eigentlich durch, nächste Woche wird sie entlassen, alles wieder gut. Aber Sie, Sie humpeln, waren Sie hier beim Arzt?“
„Genau. Bandscheibe.“ Marie sah ihn grinsend an.
„Au ha! Schlimm?“
„Ach was, wird schon wieder, kleine Fische!“
„Na ja“, der mit Rückenproblemen vertraute Taxifahrer runzelte die Stirn: „nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter!“
„Klar, nehm‘ ich nicht, aber immer nach vorne schauen, oder?“
„Da sagen Sie was!“, die Miene des Fahrers wurde ernster, während er mit einer um Lässigkeit bemühten Geste auf ein paar vor ihm auf dem Armaturenbrett liegenden Papiere zeigte: „Ich bereite mich gerade auf eine Trauerrede vor, mein Vater ist letzte Woche gestorben, ich übe jeden Moment ohne Fahrgast, will das schließlich ohne zitternde Unterlippe hinkriegen!“
„Oh“, Marie fasste ihn leicht am Oberarm, „das tut mir leid!“
„Ne, ne“, winkte der Fahrer ab und schaute ihr kurz ins Gesicht, um zu zeigen, dass er ernst meinte, was er ihr offenherzig anvertraute: „Er war sehr alt, hatte Demenz, alles gut, war eine Erlösung, auch für mich. Aber die Rede! Ich hab‘ echt Schiss, vor lauter Aufregung selbst ins offene Grab zu fallen!“
„Das versteh‘ ich gut“, antwortete Marie, „all die Leute …“
„Also…“, leicht beschämt blickte der Fahrer zur Seite und Marie kam es so vor, als überlege er einen Moment, ob er jetzt mit einer geschönten Version oder der blanken Realität weitermachen wolle. Er entschied sich für die Realität:
„Also es kommt eigentlich außer mir nur noch meine Tante, jedenfalls weiß ich sonst von niemandem. Sie ist vierundneunzig und sitzt im Rollstuhl, aber sie hat es sich nicht nehmen lassen. Eine Sache der Ehre, sagt sie. Na ja, und für sie hab‘ ich diese Rede geschrieben, das geht doch nicht, dass ich eine Vierundneunzigjährige ins offene Grab schauen lasse, in den sie ihren Bruder versenken, um ihn dann mit Erde zuzuschütten, ohne etwas dazu zu sagen!“
„Mann!“, Marie war zutiefst beeindruckt, „das ist groß!“
„Ach was“, winkte er ab, „das ist nur selbstverständlich.“
„Das meine ich ja“, Marie insistierte, „dass Sie das so empfinden, das finde ich groß!“

Sie schwiegen eine Weile und dann sprachen sie weiter über die bevorstehende Beerdigung, bis Marie irgendwann begann, von ihrem Bruder zu erzählen, wie er damals, schon seit vielen Tagen im Koma, noch einmal aufgetaucht war kurz vor seinem Sterben, um ihrem Vater eine gut fünfminütige Rede zu halten, die er offensichtlich im Koma vorbereitet hatte. In dieser Rede hatte ihr Bruder nichts ausgelassen, um ihren Vater von aller Schuld, die er an seinem Sohn vielleicht begangen hatte oder auch nur fürchten könnte, begangen zu haben, freizusprechen. Dies war der einzige Inhalt der Rede gewesen und Marie war fest davon überzeugt, dass sie der Grund dafür gewesen war, dass ihr Vater nach dem Sterben seines Sohnes noch vier Jahre lang ein fröhliches, andere durch seine ansteckende Kreativität inspirierendes Leben hatte leben können.

Als sie mit der Erzählung zu Ende gekommen war, lenkte der Fahrer seinen Wagen in eine Parklücke und hielt an:
„Das ist ja unglaublich, dass ich Sie ausgerechnet jetzt treffe, kurz vor der Beerdigung! Und Ihre Geschichte von Ihrem Bruder! Sie wissen ja, meine Frau hat auch eine Woche lang im künstlichen Koma gelegen, und bis heute ist da so ein unsicheres Gefühl in mir gewesen, wie ich das verstehen soll, was ich erlebt habe.“ Er schwieg einen Moment und ging zurück in der Erinnerung an diese Tage: „Sie hat nämlich immer eindeutig reagiert, wenn ich ins Zimmer gekommen bin, das hat man an den Instrumenten, an die sie angeschlossen war, ganz klar erkennen können. Niemand, auch der Arzt nicht, hat mit mir darüber gesprochen, und, wie gesagt, ich war auch so unsicher damit, das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber jetzt … danke, das hilft. Es ist also wahr.“
Wieder berührte Marie ihn leicht am Arm und spürte die Nähe, die Nähe des Einundselben.
Bei ihrer Adresse angekommen, verabschiedeten sie sich herzlich, sie wünschte ihm noch einmal Glück für den kommenden Freitag und winkte ihm nach, als er mit seiner Taxe davonfuhr.

Dann humpelte sie zu ihrem Hauseingang, zog sich am Geländer die wenigen Treppenstufen hoch, die sie bis zu ihrer Wohnungstür überwinden musste, betrat ihre Wohnung und nahm entschlossen Kurs auf in Richtung ihres Sofas, das für die nächste Zeit wohl das Zentrum ihres Universums bilden würde. Auf dem Weg dorthin telefonierte sie noch kurz mit ihrem Mann, legte sich dann – angekommen – aufatmend auf den Rücken, merkte erleichtert, wie die Schmerzen sofort nachließen und ging, bevor sie in einen wohlverdienten Mittagsschlaf versank,  in ihren Gedanken zusammen mit diesem erstaunlichen Mann, den sie da soeben getroffen hatte, ans Grab seines Vaters, sah die alte Tante dort in ihrem Rollstuhl sitzen und ihn, den Sohn, ohne Angst seine Rede halten, die er nur für sie geschrieben hatte, um ihr Trost zu geben. „Hier erst bist du vollständig beantwortet, Angst“, dachte sie, schon von wohligen Schlummerwölkchen umgeben, „hier darfst du sterben!“


                                                                                                                                                        ***

(1) frei aus Stephen Kings „The Green Mile“

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                                                   Der WEG ZU WUNDERN

8/11/2016

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Mit freundlicher Erlaubnis
 des Autors Achim Elfers
aus seinem Buch "Das glaubst du ja nur!",
Verlag Ch. Möllmann, Borchen, 2.Auflage 2016

„Gott sei Dank bin ich Atheist! Ich komm’ wunderbar ohne Gott aus!“
Nach einer scharf gepfefferten Geistvermeidungsrede sprach seine Schwäg­er­inn Rêverie triumphalischer Laune dies Bekenntniss aus, hob derweil ihre Arme wie eine Siegerinn nach einem Kinder­wett­renn­en. Frieder staunte immer wieder ob solches Getues, solches ihm leichtfährtig klingenden Sprechens und ihm flach erscheinen­den Denkens.
„Wunder-bar mit einfachem ‚a’? Oder ‚wunder-bahr’ mit ‚ah’? Wie meinst du das? Du kommest bar jedes Wunders ohne Gott aus?“, stichelte er mit geheuchelt sanfter Stimme.
Sie aber kannte ihn und entgegenete hochmütig lachend: „Tu doch bloß nicht so! Du weißt doch genau, wie ich das meine!“
Frieder ließ sich jedoch so nicht abwimmeln und fragte: „Ich ver­mute, ich wisse es, aber sprich: Was denkst du ernstlich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzu, dass du ‚wunderba(h)r ohne Gott aus­komm­est’?“
„Ernstlich? Eigentlich nichts. Wer glaubt schon an Wunder? Das tun doch nur Kinder, Naive und Irre.“
„Und spirituelle Christen.“
Rêverie antwortete zuerst mit erkünsteltem Lachen; dann fragte sie: „Ach ja? Und was ist ein Wunder?“
„Das weiß ich nicht. Vermutlich nennt der Name ‚Wunder’ nichts Eigenständiges. Aber ich weiß zu bekunden, was ich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzudenke; nämlich, dass im Wunder dem Men­­schen eine Schauweise neben der gemeinen alias normalen Sicht­weise angeboten werde.“
„Wie meinst du das?“
„Wir sehen alltäglich, unablässig und gemeinhin in der insofern normalen Sicht­­weise, als diese der gemeinen Norm genügt. Diese Sichtweise nenne ich (und nicht nur ich) das ‚Ego’.  Das ‚Ego’ ist mir der Name für die Sichtweise der Trennung und Vereinzelung, in welcher der Mensch als ein von innen bewegter Cörper gesehen wird, der unter tausenden anderen Cörpern ein Einzelleben führe, bis er stirbt, was als sein „Tod“ erachtet wird. Das Wunder als Angebot einer Weise des Schauens hebt die Trennung und Ver­einzelung auf. Per exemplum mag jemand denken, er sei allein, weil er schon elf Menschen vergeblich fragte, ob sie ihm helfen könn­­ten, und sie Alle verneinten. Aber dann, als er schon auf­ge­geben hat und niemanden mehr zu fragen bereit ist, kommt ein Zwölfter und lächelt ihm entgegen. Er hilft ihm. Darin erachte ich das Wunder: Mit einem unerwarteten, ja: als „möglich“ aus­ge­schlossenen Male wird dem Verzweifelten gezeigt, dass er doch nicht allein ist.“
„Hast du das so erlebt?“
„Ja. Ein Taxi-Chauffeur stand am Flughafen an erster Stelle und als Fahrgäste bei ihm eingestiegen waren, sprang sein Wagen nicht an. Er fragte bei seinen nächsten elf Collegen, ob sie ihm Starthilfe geben könnten; die darfür erforderlichen Starterkabel habe er. Aber alle elf Collegen verwiesen darauf, dass durch Starthilfe die elektro­nischen Geräte in ihrem eigenen Wagen durch­ein­ander­kommen könnten, und halfen ihm nicht. Er eilte Hände ringend, ja: verzweifelt zu seinem Wagen zurück und klagte laut: „Keiner! Kein Einziger!“. Die Fahrgäste entstiegen ungeduldig seiner Drosch­­ke und wählten eine andere. Ich stand mit meinem Taxi neben ihm auf einem Halteplatze nur für anliefernde Taxen und entließ dort gerade meine Pass­agiere, als ich dies vernahm. Ich ging zu dem Collegen und stellte meinen Wagen für die Starthilfe bereit. Was denkst du, wie froh er war. Geradezu himmelisch ge­tröstet.“
„Ja, schön. Aber das nennst du ein Wunder? Das ist doch nur ein Zufall! Nichts als ein schöner Zufall, dass der Taxifahrer gerade dir be­geg’net ist, der du eben ein freundlicher Mensch bist!“
„Ja, das nenne ich ein Wunder, und zwar tue ich dies minder leicht­fährtig denn du eingangs deine Gottlosigheit ‚wunderba(h)r’ nanntest. Und einen ‚Zufall’ nenne ich auch das am Flughafen Erlebte. Mittels des Namens ‚Zu-Fall’ wird der Fall genannt, der zu einem anderen Falle hin­zufällt. Aber dies Hinzufallen oder dieser Hin­zufall weder nennt noch beweist, dass kein tieferer oder gar wunderbahrer Zu­samm­en­hang des Werdens mit dem einen Falle sei. Ich aber gelaube nicht an Blitze aus heiterem Himmel, sondern an einen großen Verbund des Werdens und Seiens, in dem kein Mensch allein oder nur ver­einzelt ist. Das Wunder ist nicht spectaculär und geschieht nicht, um die ‚Natur­ge­setze’ genannten Wirkzusammenhänge zu brechen, sondern um die An­wesenheit der Liebe aufzuzeigen.“
„Du biegst dir die Worte immer so lange zurecht, bis sie in deinen Kram passen!“
„So erlebst du dies? Hm. Aber wenn ich Worte zurechtzubiegen ver­mag, dann beweist dies nur die Unstarrheit und Biegsammheit der Worte. Viel­leicht sind sie allso nicht so starr, wie du sie dir denkst, dass du niemandem erlaubst, sie anders denn du zu denken? Und du meinst nun den Namen ‚Zufall’? Ja, ich prüfte den Namen vor Gebrauch, aber mit Sprach­wissen­schafft be­gründet. So entdecke ich, dass der Name ‚Zu-Fall’ nicht als Nenn­leistung enthält, dass wie bereits verkündet hinter dem „Zu­falle“ keine bedeut­samme oder tiefere, mithin sinnvolle oder gar wunder­bahre Ver­­bind­ung bestehe. Dies lässt der Name ungenannt und allso offen. Und ich denke in die Worte hinein, welche uns die Um­­gangssprache vor­giebt. Und wenn ich derweil des Hin­ein­denk­ens auf Wider­sinniges stoße, bin ich für eine Berichtigung be­reit. So komme ich darzu, im um­gangs­sprachlichen Worte ‚Zufall’ nicht den schon genannten Blitz aus heiterem Himmel, sondern den wenn auch unsichtbahren Zu­sammenhang zu denken. Das ist viel­en leicht­sinnigen oder gar oberflachen Sprechern un­ge­nehm und unbe­quem, jedoch für mich die einzig richtige Weise des Sprech- oder Wortdenkens.“
„Jaja, du bist ein unverbesserlicher Besserwisser.“, grinste sie so, als sei sie unüberwindlich.
Frieder, der ja nicht sie zu überwinden, sondern ihr lediglich zu in sich schlüssigen Gedanken zu verhelfen versucht hatte, lächelte nur leicht und durchaus noch wohlwollend.
Später, als er dem Gespräche nachdachte, kam ihm die Frage in sein Bewissen, wie er wann darzu gekommen sei und begonnen habe, in die Worte hinein­zu­denken. Und nach langem inneren Forschen, Graben und Suchen erinnerte er, wie er als junger Mann immer öfter bewogen war, zu wissen innig zu wünschen, was je­mand genau meinte, der mit ihm nicht nur beiläufig über etwas ihnen Beiden Wichtiges sprach und unclare Worte verwendete. So etwa ‚Frei­heit’ oder stärker noch: ‚Willensfreiheit’. Oder: ‚Geist’, ‚Tod’, ‚Wahrheit’, et c. Der eine oder andere Sprecher schien etwas jeweils Anderes zu den Namen hinzuzudenken als andere Sprecher dies taten. Wie kam dies aber?
Die Hinzudenkungen zu den Namen dünkten Frieder bei jenen Sprechern desto zweifelhafter, je mehr sie der Umgangssprache prüf­­­los ge­horchten. Und diese Gehorsammen kamen auch in sich nicht auf den oder einen Grund, denn darzu hätten sie bereit seien müssen, die Oberfläche ihres Denkens fragend zu untergraben. Aber ge­rade darzu waren sie nicht bereit.
Als Frieder aber nun seinerseits sich auf den Grund zu kommen ver­suchte, bemühte er sich, zu erinnern, wie er gewesen war, als er noch nicht als „Ich“ sich erlebte. Und er gelangte zu Er­inner­ungs­bruch­stücken, in denen er als der durch die Sinne und zumeist durch den Ge­sicht­ssinn Vernehmende schemen­artig enthalten war. So entdeckte er den Beginn seiner Welt. Seiner Welt? War diese eine andere denn das gesammte Seiende, das ihn und alle Men­schen um­gab? Wie mochte er allso nun ‚seine Welt’ oder deren Beginn ent­decken? Und doch fand er immer mehr Einzel­heiten einer Welt, die er mit anderen Menschen nicht teilen konnte, ob­wohl er es versuchte. Sie je­doch sahen dies oder jenes schlicht­­weg anders und waren nicht bereit, ihre Ansicht, Deutung, Erachtung oder Wertung des von ihnen Vernommenen, Empfundenen, Ge­dachten in Frage zu stellen, sodass sie im Ganzen ein anderes Welt­deut­ungsge­füge im Kopfe trugen. Und wenn Frieder es recht bedachte, dann war ihr Deutungsgefüge schon ihre Welt. Und das sie Alle Umgebende nannten sie zwar die ‚Welt’, als sei dar nur Eine-für-Alle, jedoch waren dar so viele Welten wie Sprecher und Träumer.
Frieder kam auch nach langer, bedenkender Prüfung seiner Ge­danken wiederum zu dem Schlusse, dass der Gedanke nur einer Welt für alle Sprecher nicht zu halten war. Zwar dachte Frieder, dass die SCHÖPFUNG eine einzige für alle Geschöpfe sei, jedoch von den diese eine, einzige, ewige, heilige, liebevolle, unzertrennte Schöpfung nicht erkennenden, je­doch nur teilweise vernehmend­en, deutenden, erachtenden, wertenden Sprechern in deren unstete Träume zertrennt. So viele Welten sind, wie Sprecher sind, wenn auch alle diese Sprecher eine große gemeinsamme Schnitt­menge auf­wiesen, über die eine Ver­ständigung möglich war und ge­­lang.
Und weil er für alle seine Unterscheidungen andere Namen be­durfte und brauchte, um sie zu versiegeln und freilich zu begreifen, nannte er die Sicht- und Deutungsweise eines jeden nur an sich und seine Ansätze G’laubenden das ‚Ego’. Das ‚Ego’ war ein Name für die Trennungssicht der an diese Sicht als „Wahrheit“ prüflos G’laubenden. Wer hingegen liebte (und zwar nicht tote, lieblose Dinge, sondern Beseeltes), der war zu­mindest bereit, die durch das Ego hindurch gezogenen Grenzen oder Trennungen zu relativ­ieren oder aufzuheben. Aber wenn dies ge­schah, war es so selten und doch so erstaunlich erfreulich, dass Frieder dies ein ‚Wunder’ nannte, auch wenn dies zumeist nicht auffällig oder gar spectaculär war und nur ihm sich dar­bot. Dieser Name ‚Wunder’ war ihm nun der Name für die Schau­weise der Un­­getrenntheit in LIEBE.
Eines Tages darnach, als er abermals vergeblich versucht hatte, Rêveries Sinn für den Geist und somit für dessen Erscheinung als Wunder mittels gesprochener Sprache zu öff’nen, dachte er  miss­mutig, dass manche Menschen so verstockt oder so dumm seien, dass sie nie zu der umfassenden LIEBE kämen, die von vielen Sprechern so verdeckend ‚Gott’ genannt ward. Als „verdeckend“ fand Frieder diesen Namen, weil er nicht offen die Liebe nannte, sondern „etwas Angerufenes“ oder aber „etwas, dem ein Guss­opfer gegossen wird“, das erst durch Nachlesen in einem Her­kunfts­wörter­buche zu ersehen war.
So schwer war dies! Viele Menschen hegten eine Gottes­vor­stell­ung, die von eisenhart dictierten Lehrweisen alias ‚Dogmen’ oder traditionsüber­ladenen Katechismen vorgegeben worden war, weil schon und allein der Name ‚Gott’ diesen Dogmen nicht wider­sprach. Dass die unendliche, ungegrenz­te LIEBE mit dem Namen ‚Gott’ von keinem Sprecher unmittelbahr und offen­hörlich ge­nannt und allso nicht gedacht ward, bemerkte kaum jemand (trotz 1.Joh 4,16!). So blieb diese LIEBE unerschlossen und unemp­fund­en (ob­wohl SIE immer HIER war und ist), weil SIE von einem Phantom mit anderem, nichts­sagendem Namen ersetzt worden war, zu dem all­ge­mein nicht „LIEBE“ hinzugedacht ward, sondern irgend etwas Anderes. Und manche Sprecher – so dachte Frieder – hatten sich der Maßen an die Ausgeschlossenheit der LIEBE ge­wöhnt, dass sie so verstockt und dumm geworden waren, SIE nie­males zu finden.
Er, Frieder, hatte allso unbemerkt und ungewollt die Schöpfung der LIEBE gespaltet, nämlich in die zwei Lager der „Geist­be­reiten“ und der „Geistvermeider“. Ein unguter Gedanke und ein heil­loses Urteil!
Aber wiederum begegeneten er und Rêverie einander. Sie war nieder­ge­drückt, weil ihrer Beider gemeinsamme Bekannte namens ‚Christiane’ nach längerem Leiden ge­storben war.
„Dass ein Leben so einfach endet und weg ist!“, seufzte Rêverie.
„Das sehe ich nicht so.“, bot Frieder einleitend an, ihr seine Sicht vor­zu­stellen.
Zu seinem freudigen Erstaunen wimmelte seine Schwägerinn ihn nicht wieder hochmütig ab, sondern sie nahm sein An­ge­bot an, denn sie blickte ihn fragend, ja: bittend und mit einem Fünklein Hoff’nung in ihren Augen an, seine Ansicht mit ihr zu teilen. So sprach er: „Etwas wie ‚ein Leben’ erachte ich als einen Traum. Dar sind nicht „dein Leben“, „mein Leben“, „Christianes Leben“ und „das Leben dessen“ oder „das Leben deren“, sondern dar ist nur EIN LEBEN: DAS, welches wir Alle miteinander teilen, ohne ES zu zerteilen. Und das Jenige, das der Mensch, den wir ‚Christ­iane’ nannten und als Christiane kannten, eigentlich war, nämlich unsterbliche Seele, das ist er, der Mensch, noch immer, auch wenn er nun dem Cörper ent­schwebt ist.“
„Das mag ja so seien. Aber du sprichst doch immer wieder von Wundern! Hätte denn nicht jetzt endlich mal ein echtes Wunder ge­­­schehen können, das uns zeigte, dass wir Alle be­hütet werden? Hätte Christiane nicht einfach gesund werden können?“
„Das wäre schön einfach, denn so müsste niemand etwas zu seinem bislang gottlosen Weltdeutungsgefüge hin­zu­lernen, nicht? Wir könnten auch fürderhin an den Menschen als einen „Cörper“ g’lauben und müssten später wiederum um ihn bangen, wenn er dann doch stirbt. Aber für mich ist das Wunder schon geschehen, liebe Rêverie. Dass du mich heute und nun nicht verspottest, wie sonst doch so oft und gern, sondern hoffenden Auges mich um meine Sichtweise und somit um das Wunder be­fragst, das ist mir schon ein Wunder, denn es zeigt mir, dass ich eine falsche Angst um dich hegte. Nun mögest du nur noch friedlich loslassen, näm­lich die lang gehegte Denke, dass unser LEBEN so aus­schließ­lich an die jeweiligen sterb­lichen Hüllen alias die ‚Cörper’ gebunden sei, dass ES ohne diese nicht aus­komme. Aber ES ist immer HIER, auch wenn wir es nicht sehen oder hören können. Und wir Beide, ja: wir Alle sind darinnen und von IHM be­wegt und beat’met.“
„Ach, das ist doch Alles nur Theorie! Stattdessen würde ich so gern Christianes Lachen noch ein Mal hören und ihr süßes Lächeln noch ein Mal sehen oder sie umarmen! Ist dieser Wunsch denn so falsch, dass er mir nicht erfüllt werden kann?“
„Du hörst und siehst es doch immer dann, wenn du ihres Lächelns oder des (Klang-)Bildes ihres Lachens gedenkst. Du vernimmst es zwar nicht wieder über die Sinne, aber die Sinne unserer Cörper bieten uns ohnehin nichts Ewiges oder Waares, sondern eben stets nur das Untreue, nämlich: das Ver­gängliche. Allein das Ewige ist un­vergänglich und un­vernehmlich. Aber wir mögen uns den­noch dem Ewigen öff’nen, wenn auch nicht über die darzu un­tauglichen Sinne, sondern inner­lich. Und dort ist auch sie, die liebe Christiane, die uns voraus- und hinüberschwebte und uns zu­lächelt, dass wir ihr bald folgen mögen.“
Rêverie dachte den Worten lange, lange nach. Sie seufzte mitunter oder at’mete schwer, bis sie endlich leise sprach: „Ja. Ein anderer Trost ist wohl nicht möglich. Ich danke dir. Aber wo ist nun dein Wunder?“
„Mein Wunder ist, dass du nun die ersten Schritte getan hast, das Wunder und mit ihm den Geist der LIEBE anzunehmen, der auch ohne vergänglichen Cörper LEBT.“
Auch Frieder dachte später dem Gespräche nach. Und er fand zu­nehmend, dass Alles, das geschah, entweder als ein einziges Wunder oder aber als eine nicht abreißende Kette schönster Wunder anzuschauen sei. So befand er sich in einem dauernden Wunder. Und das dauernde Wunder nannte er die ‚große Schau’.

                                                                                                                                                               *





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                                             IM GARTEN MEINER SEELE ...   

17/9/2016

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„Depressiv bin ich nicht, nein das würde ich nicht sagen. Ich war immer ein recht positiver Mensch, und das bin ich auch jetzt noch. Aber meine Energie ist weg. Da ist ein Raum um mich, aus dem alle Energie ausgelaufen ist, ein leerer Raum.

Selbstmord kommt für mich nicht in Frage, ist überhaupt kein Thema, aber was soll ich noch hier? Wissen Sie, im letzten Jahr ist mein Mann gestorben, wir waren sechzig Jahre verheiratet, ich bin jetzt fünfundachtzig, wow!, das ist nicht einfach, sag‘ ich Ihnen! Und dann kam die Krankheit, ich will Sie nicht mit Details belästigen, und jetzt müssen auch noch beide Augen operiert werden. Ich verwalte mich doch nur noch, und das mehr schlecht als recht!
Aber andererseits, wenn ich mir das so sage oder es wie jetzt erzähle, dann regt sich sofort auch etwas Anderes in mir und sagt nein!, das stimmt doch nicht, das ist nicht alles, was du empfindest, diese Leere, so schlecht ist sie gar nicht, ungewohnt vielleicht, aber auch … sehen Sie, und dann gehen mir normalerweise die Worte aus.
Letzte Woche allerdings ist mir etwas Ungewöhnliches passiert. Und seitdem hab‘ ich eine kleine Geschichte, mit der ich doch annäherungsweise sagen kann, was ich meine. Soll ich sie erzählen? Wollen Sie mir zuhören?“

„Ich höre zu“.

„Da saß ich also im Garten unserer Wohnanlage auf meinem Rollator – federleicht das Ding und sauteuer! – und schaute schon eine ganze Weile dem Gärtner und seinen Leuten zu, wie sie sich um die Bepflanzung kümmerten. Irgendwann kamen die Männer zusammen und besprachen etwas, woraufhin einer von ihnen sich aus der Gruppe löste – ein vielleicht vierzigjähriger Schwarzer, sagt man heute so? Ist das korrekt? Aber egal – der schließlich auf mich zukam.

Zu anderen Zeiten – glauben Sie mir!- hätte ich den Anblick wohl genossen, seinen federnden Gang, das Spiel seiner Muskeln: eine  einzige Hymne der Freude an der Bewegung! Jetzt aber bedrückte mich die Situation eher, als ich mir vorstellte, dass er im Näherkommen erkennen würde, dass mir die Haare fehlten und wie gebrechlich ich war. Trotzdem blickte ich ihn aufmunternd an, als er endlich vor mir stand, und da …
Wenn ich jetzt feige wäre, würde ich sagen: da nickte er mir kurz zu.

Aber das war es nicht. Mit einer ganz kleinen, feinen Bewegung seines Kopfes verneigte sich dieser Mann vor mir – und im selben Moment flog ihm meine Seele zu, verzeihen Sie, ich kann das jetzt nicht anders ausdrücken, meine Seele, die er in ihrer Gänze zu kennen schien, und die er wie umarmte, um ein einfaches „Ja“ zu ihr zu sagen: Ich erkenne Dich!

Ich weiß nicht, ob Sie so etwas schon einmal erlebt haben, aber ich sage „Seele“, weil ich das Gefühl hatte, in allen Tiefen ausgelotet zu werden, auch denen, die ich selbst nicht kannte, und vor allem mit all dem, wozu ich „nein“ sagte: meinen Fehlern, dem Scheitern, der Nähe meines Sterbens. Er hat es alles umarmt. In einem einzigen Augenblick, ohne eine Antwort zu wollen. Und dann hat er nur noch seine Frage gestellt …“

„ … und was hat er gefragt?“

„Wo die Müllsäcke mit dem Laub hinsollten, bis sie abgeholt würden, ob ich das wisse?“ Ich hab‘ es ihm gesagt und er ist gegangen.

Wissen Sie, er hat mich wohl gesehen in meiner Sorge, und ich glaube …“

„Das glaube ich auch!“

„Dass …?“

„Dass er keine Angst hatte“.

„Ja. Dass er keine Angst hatte. Und das hat diesen scheinbar leeren Raum sofort aufgefüllt mit dem, wofür ich keine Worte habe. Aber jetzt kann ich’s doch wenigstens mit dieser kleinen Geschichte erzählen.“

„Ja, das können Sie. Ich hab’s verstanden, und ich danke Ihnen dafür!“

„Und ich Ihnen. Fürs Zuhören. Machen Sie’s gut und … leben Sie wohl!“

                                                                                                                                                                   *

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                                                               Einklang

8/8/2016

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Ich kenne eine Frau, die bei ihrer Arbeit mit Kindern – sie ist Grundschullehrerin – ein einfaches Mittel anwendet, um Ruhe herzustellen: Auf ihrem Pult steht ein kleiner Gong, den sie nur einmal leicht anschlägt, wenn es ihr zu laut wird, und sofort sind die Kinder still und richten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Unterricht aus. Das hält nicht immer lange an, aber es funktioniert zuverlässig als Unterbrechung jeder Form von Unruhe.

Sicherlich ist das allein schon bemerkenswert. Das eigentlich Interessante für mich aber ist, dass jeder Versuch der Kolleginnen besagter Lehrerin, sich ebenfalls auf diese Weise ins Paradies ruhiger Klassenzimmer zu gongen, kläglich scheiterte. Nicht, dass die Kinder diese Versuche aktiv boykottiert hätten, sie reagierten einfach nicht, fühlten sich nicht angesprochen, es kam nicht an bei ihnen, hatte nichts mit ihnen zu tun.
Die Kolleginnen mussten wieder auf ihre eigenen Strategien zurückgreifen, der Gong blieb nur bei dieser einen Lehrerin erfolgreich.

An der selben Schule trat einmal ein Marionettenspieler auf, der nach der Vorstellung in kleiner Runde von einem ähnlich einfachen, noch subtileren Mittel berichtete, das er anwendete, damit sich bei seinem Publikum die nötige Aufmerksamkeit einstelle.

Keiner seiner Versuche, vor dem Beginn der Aufführung wortreich zu erklären, dass für den Puppenspieler ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit im Raum wichtig sei, die er spüre und in der er seine Poesie erst entfalten könne, hätten geholfen. Bis er eines Tages in sich gegangen sei und sich gefragt habe, wie er selbst denn sein Publikum wahrnehme. Ehrlich berichtete er, wie zunächst  Vorurteile, konkrete ärgerliche Erinnerungen und vor allem die stets lauernde Angst, mit seiner Kunst missachtet zu werden, seine Wahrnehmung bestimmt hätten. Aber neben oder hinter all dem sei etwas Positives aufgetaucht, das er immer auch empfinde: Dankbarkeit. Dankbarkeit schlicht dafür, dass die Leute zu ihm kamen, um sein Spiel anzusehen.
Da habe er beschlossen, zukünftig keine Ansprachen mehr zu halten und Erklärungen abzugeben, sondern sich lediglich vor jeder Aufführung an diese Dankbarkeit zu erinnern.

Wenn er beginnen wolle, verneige er sich, ganz im Stillen, nur für sich, vor seinem Publikum und danke ihm. Die Aufmerksamkeit stelle sich sofort ein. „Man muss die Dankbarkeit aber wirklich in sich finden, sonst funktioniert es nicht“, gab er seinen staunenden Zuhörern noch mit, die ja zuvor erlebt hatten, wie sie sich selbst ab einem gewissen Punkt auf seine Vorführung konzentriert hatten.

Ich erinnere mich an diese Geschichten, weil ich nach Beispielen suche, die mir helfen könnten, einzuordnen, was mir heute geschehen ist. Unvorbereitet bin ich einer Frau begegnet, die an Morbus Alzheimer erkrankt ist. Sie ist in Begleitung ihres Sohnes gewesen, der nicht gezögert hat, ganz offen über ihre Krankheit zu sprechen, um mir, dem Unbekannten, die Irritation zu ersparen. Und da gab es einen Moment in dieser Begegnung, über den ich seitdem nachdenke.

Dr. Ihaleakala Hew Len ist mir noch eingefallen, den ich freilich nur vom Hörensagen kenne – und doch hat mich sehr tief angesprochen, was über ihn berichtet wird. Dr. Len ist ein hawaiianischer Therapeut, kommt aus der Tradition des auf Hawaii als Heilmethode zur Aussöhnung und Vergebung angewandten „Ho’oponopono“ ( „in Ordnung bringen“ ), hat aber im Laufe der Zeit ein sehr eigenständiges Denken entwickelt, das, wie ich es verstehe, aus den speziellen Erfahrungen resultiert, die er machen konnte.

Dr. Len war in den 1980-er Jahren für etwas mehr als ein Jahr als Therapeut in einer Abteilung für psychisch erkrankte Kriminelle tätig. Es wird berichtet, er habe in dieser Zeit lediglich die Akten der Erkrankten eingesehen: Seine Arbeit sei einzig und allein gewesen, an sich selbst zu arbeiten, indem er für alles, was ihm beim Studium der „Fälle“ begegnet sei, die Verantwortung übernommen habe. Ich verstehe das so, dass er diese Verantwortung in Vergebung münden ließ und mit der Bitte um eine andere Sicht auf die Dinge verband, so lange, bis er dem ihm Unbekannten aufrichtig sagen konnte: Ich liebe Dich, ich verzeihe Dir, ich habe dich wiedererkannt als meinen Seelenbruder. Die „Verantwortung“ bestünde dann in dem Akt, in sich selbst die Schranken vor dieser Sicht abzubauen.

Die angespannte Lage, die auch auf die Pflegekräfte und Ärzte übergegriffen hatte, entspannte sich zunehmend, Zwangsmaßnahmen wie Fesseln konnten mehr und mehr reduziert werden und es mussten immer weniger Medikamente gegeben werden. Knapp zwei Jahre nach Beginn der Arbeit von Dr. Len konnte die gesamte Abteilung aufgelöst werden.

So hört man und muss sich nun fragen, was man davon hält. Ein Märchen? Eine geschönte Erzählung? Ein Wunschtraum? Oder gibt es noch eine andere Resonanz, einen leisen Gong vielleicht, ein „Danke“, eine Verneigung vor dem Anderen, die still hinter allen Einwänden von einem Einverständnis spricht mit einem solch ungewöhnlichen, für unsere rationalen Kategorien unglaublichen Heilungsansatz?

Ich sagte, ich suche nach einer Hilfe, mir zu erklären, was vorhin geschehen ist, äußerlich vielleicht eine Banalität, nichts Besonderes, aber in meinem Erleben kaum einzuordnen, es sei denn, ich akzeptiere das Wunder.
Die an Alzheimer erkrankte Frau hält ununterbrochen Selbstgespräche, in einem  freundlichem, ja warmherzigen Ton, emotional sehr facettenreich, und ganz entspannt dabei wirkend bespricht sie die Dinge, die ihr gerade durch den Kopf gehen, dies allerdings ohne einen erkennbar sinnvollen Zusammenhang. Ihr Sohn verhält sich ausgesprochen tapfer, versucht, die Situation so anzunehmen, wie sie nun mal ist und für seine Mutter da zu sein. Aber als sie ihn einmal ansieht und ihr Gesicht dabei verzweifelt und angestrengt wird, weil sie ihn ganz offensichtlich nicht erkennt, bricht er fast zusammen. Was für ein Augenblick! Die Mutter schaut ihren Sohn an und erkennt ihn nicht. Das ist für den jungen Mann ein Albtraum, auch wenn er versucht, sein Wanken mannhaft zu beherrschen. Und ich wanke mit ihm, auch ich bin der Sohn einer Mutter, und es ist der Horror.
Dann aber dieser Moment. Sie deutet plötzlich auf eine Zahl, irgendwo auf einer Werbetafel: 214. „Hundert … vierzehn“ sagt sie und ich weiß nicht, wieso, aber ich freu‘ mich so sehr über diese richtig benannte „vierzehn“, dass ich mich zu ihr hindrehe, ihr ins Gesicht schaue und freudestrahlend wiederhole: „Vierzehn!“, wie vielleicht bei einem Kind, wenn es ein neues Wort zum ersten Mal ausspricht.
Jetzt wird es schwierig, und deshalb – Verzeihung! –  der ganze Vorlauf: wenn ich sagen will, was ich wirklich erlebt habe in diesem Moment, kann ich nicht anders: Für diesen Moment ist da keine Krankheit, das „Ja“, mit dem mir die Frau antwortet, ist vollkommen ungetrübt und klar wie Quellwasser.
Es gebe solche Augenblicke, erklärt der Sohn, aber er sagt es mit der Resignation der Erfahrung in der Stimme, dass diese Augenblicke immer sofort verlöschen. Und so scheint es auch diesmal zu sein: die Mutter kehrt wieder zu ihren Selbstgesprächen zurück.

Aber …..

haben wir Söhne, wir Kinder unserer Mütter nicht eben vor dem Spiegel gestanden, in dem wir uns einst gelernt haben zu sehen, und haben wir nicht erlebt, dass im selben Moment, wenn die Freude rein genug ist, frei von Zweifeln, Beschränkungen, Bedingungen, Ängsten … dieser Spiegel nicht anders kann, als wieder ungetrübt zu sein, und wenn auch nur für einen kurzen Augenblick?

Kann ich es über mich bringen, zu sagen, Du, unbekannte Frau, ich liebe Dich, ich verzeihe Dir, ich habe Dich wiedererkannt als meine Seelenschwester?

Danke, lieber Leser.


                                                                                                                                                              *
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                                               AUF EIN OFFENES Wort!

30/5/2016

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Man kennt das.  Es ist menschlich. Wenn jemand zu Grabe getragen wird, beschäftigen sich die, die gekommen sind, ihn bis an jene Schwelle zu begleiten, über welche ein Jeder alleine gehen muss, besonders in den hinteren Reihen dieser Gefolgschaft vornehmlich damit, die vermeintliche Tatsache zu illustrieren, dass ihr eigenes Leben eine Ausnahme und prinzipiell unendlich ist.
Auf diese Weise erfährt der schweigende Mitläufer – ob er will oder nicht – während er sich in kleinsten Schrittchen dem offenen Grab nähert, wo er sich in Worten, die er noch nicht kennt, verabschieden will … von den schönsten Sandstränden Ibizas, wie man Rosen fachmännisch beschneidet und den lästigen Blattläusen ein Schnippchen schlägt und wer – bei Beachtung selbst für einen Fußballignoranten wie mich einfach zu verstehender fußballerischer Grundtugenden – in der Bezirksliga den Aufstieg schaffen wird. Der Ball ist rund und rollt. Warum sollte er jemals damit aufhören. Es ist menschlich.

Und doch wäre mir ein wenig mehr Ruhe lieber, um zu den Worten zu finden, nach denen ich suche.
Es wird thematisch härter hinter mir, auch lauter, man spricht jetzt von Geld, Zinsen, Anlagemöglichkeiten. Ausblick in die Zukunft. Es ist noch Wachstum möglich.
Trotz ernsthaftestem Bemühen will es mir nicht gelingen, mich zu konzentrieren und mich von dem Gespräch in meinem Rücken zu lösen. Und so stehe ich schließlich mutterseelenallein und ohne passende Worte vor dem offenen Grab.

Hier rollt der Ball aus, enden die Strände dieser Welt, wachsen die Rosen nicht mehr und nicht die Renditen, hier fehlen mir die Worte, „verzeih‘ mir“, denk‘ ich nur, „ich kann diese Schwelle nicht überbrücken.“
„Das brauchst Du nicht, ich tu’s für Dich!“, scheint es mir aus der Tiefe zu antworten, wo das Auge nur einen Sarg erblickt, ein paar Blumen auf dessen Deckel und die kleinen Häufchen Erde, die wohl sagen wollen: „Erde zu Erde, Staub zu Staub“.
Und das Ohr, das sich dieser überraschenden Ansprache öffnen will, weil es in der hermetisch geschlossenen Welt von Sinn und Verstand kein Wort gibt, das die unsichtbare Tür vor mir noch aufschließen kann, hört: „Geist zu Geist, hab‘ keine Angst!“.

Als ich mich umwende, um weiterzugehen, begegnet mir das Antlitz der Dame, die eben noch über Anlagestrategien gesprochen hat, und es läuft eine kleine Träne über ihre Wange. Die Tür steht weit offen, durch die wir beide gehen und unter den Füßen spüre ich die Brücke, die ich mit eigenen Worten nicht bauen konnte, sie ist einfach da, für uns alle.

Leb‘ wohl!

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                                                               ALLES GUT

5/5/2016

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Sie hat sich einen Moment zu spät entschieden, abzubiegen, erzählt sie mit ernster Miene, dann aber lächelt sie gleich wieder:
Dem Sanitäter, der sie aus dem Auto holt und sie für den Krankenwagen transportfähig macht, fällt – als klar wird, dass sie ansprechbar ist – als Erstes ein: „Wow! So ein Unfall und kein Kratzer im Gesicht!“
„Männer!“ schmunzelt sie genüsslich bei dieser Erinnerung.
Sie ist halbseitig gelähmt. Die Ärzte können nicht operieren, das Risiko ist zu groß. Ein Bluterguss komprimiert das Rückenmark der Halswirbelsäule, und das ist die einzige Hoffnung: dass er sich rechtzeitig auflöst. Dennoch hält es einer der Ärzte für richtig, ihr zu sagen, dass sie nach menschlichem Ermessen nie wieder werde gehen können.
Das belastet sie schwer, sie ist alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes, wie soll das gehen?
Als ihr Söhnchen sie zum ersten Mal besucht, nimmt er seine Mama in den Arm, lacht mit ihr, freut sich einfach nur, sie wiederzusehen. Das gibt ihr den ersten Schubs in die andere Richtung: sie will gesund werden!
Der kleine Mann, der sie jeden Tag besuchen will, sprüht nur so vor Zuversicht, während er bei ihr ist: das wird wieder gut. Zu Hause aber weint er viel. Der Oma vertraut er an: „ich kann nur zu Hause weinen, das darf die Mama nicht wissen, sie muss sich freuen, um gesund zu werden.“
Fünf Jahre ist er jung, und irgendwann besteht er darauf, ganz bei ihr zu sein. Ärzte und Pflegepersonal sehen die Chance. Sie schaffen die Möglichkeit, dass die beiden für zwei Monate in einem Zimmer wohnen können, das sie sich gemütlich einrichten.
Der Junge ist ihre Perspektive, und er spürt das.
Förmlich in letzter Sekunde, bevor das Nervengewebe irreversibel geschädigt wird, lässt der Druck des Blutgerinnsels nach.
Eine kleine Schwäche der Fußhebermuskulatur ist geblieben, sonst nichts. Sie ist wiederhergestellt. Unendliche Dankbarkeit spricht aus ihr, als sie das erzählt.
Doch nicht zu spät abgebogen, denke ich, vielleicht gibt es das gar nicht: ‘zu spät’.
„Und keine Kratzer im Gesicht!“, lacht sie, und es stimmt: alles gut.

                                                                                                                                                  
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                                            Jenseits des SChmerzes

15/4/2016

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 Wäre alles nach meinem Plan gelaufen, so hätte ich in erprobter Routine an der Tür geklingelt, neben der überraschenderweise auch in diesem Jahr wieder das strahlend-weiße und blankpolierte Zahnarztpraxenschild hing, hätte diesen kleinen Moment grenzenloser Selbstbestimmtheit noch genossen, bis die Antwort des Türsummers meine Autonomie relativiert hätte, wäre tapfer eingetreten und die Treppen zur Praxis hochgestiegen, hätte mich angemeldet und mich dann für mindestens jene zehn Minuten ins Wartezimmer gesetzt, welche ich zu diesem ganz speziellen Rendezvous gewohnheitsmäßig zu früh erschien, um mich in aller Ruhe dieses Weilchen dem Durchblättern von Zeitschriften und dem leisen Klappern meiner Zähne überlassen zu können, bevor ich diese einem mir nur halbwegs vertrauten Mitmenschen ausliefern würde, dessen blinkendes und blitzendes Waffenarsenal ebenfalls gewohnheitsmäßig keinen Zweifel daran aufkommen ließ, wer hier für die  Zeit des Beisammenseins das unbedingte Sagen hatte.

Das Schicksal aber musste diesen Extrazeitraum wohl als Einladung missverstanden haben und sah etwas ganz anderes für mich und meine zehn Minuten vor.

Man muss einen kleinen Vorgarten durchqueren, um zur Haustüre zu gelangen, und schon an der Gartenpforte stürmte ein  schlanker, großgewachsener Mann in Handwerkerkleidung, hektisch gestikulierend und aufgeregt in sein Handy hineinsprechend an mir vorbei, flog geradezu ins Innere des Gebäudes, ohne an jener Tür geklingelt zu haben, die nun vor meiner Nase wieder zuschlug und mich nötigte, besagten Klingelknopf zu drücken. Schon hier war ich deutlich aus meiner Routine hinausgefallen, denn statt den Augenblick, bis die Tür geöffnet würde, wie sonst zu genießen, füllte ich ihn mit fruchtlosen Überlegungen zu der Frage, wie es denn sein könne, dass diesem telefonierenden Wirbelsturm da eben das Klingeln und Warten erspart geblieben war.
Türsummer von Zahnarztpraxen – oder vielleicht gilt das nur für diesen speziellen – haben meiner Ansicht nach einen ganz bestimmten Klang, und so fühlte ich mich, als ich in das Summen hinein die Tür aufdrückte und das Gebäude betrat, auch diesmal von einer keimfreien Strenge umgeben, die die Aufforderung  enthielt, mich noch vor jedem anderen Gedanken zu vergewissern, ob ich meine Krankenkarte dabei hätte, ohne die man mich hier überhaupt nicht als existent wahrnehmen könne.

Ich begann schon, in meinen Taschen zu kramen, als von oben ein lautes Poltern hörbar wurde: der Wirbelsturm von eben stürmte bereits wieder die Treppen hinunter, wahrscheinlich hatte er seine Probleme in einem Zeitloch gelöst, anders war das irgendwie schon nicht mehr zu erklären. Jetzt aber wurde er von einem etwa sechzigjährigen Mann aufgehalten, der sich mit Unterstützung zweier Gehhilfen mühsam Stufe für Stufe hinunterhangelte, man konnte sehen, dass seine Beine sehr dünn und kraftlos waren, viel mehr als darauf stehen konnte er nicht. Vollkommen unerschrocken drehte er sich jetzt zu dem hinter ihm Herunterpolternden um und bot freundlich an, ihm Platz zu machen, es werde noch ein wenig dauern, bis er unten sei.
Als habe ihn diese Ansprache in das Auge des Orkans katapultiert, fiel augenblicklich alle wirbelnde Kraft aus dem Stürmenden und der junge Mann, der höchstens halb so viel Lenze zählte wie sein Vordermann, wurde die Ruhe selbst.
„Auf keinen Fall, gehen Sie nur vor“, forderte er den Gehbehinderten auf, „so viel Zeit muss sein, für den Stress haben wir ja die Frauen zu Hause!“

Ich will jetzt keinesfalls die Details wiederholen, mittels derer wir gemeinschaftlich erörterten – ich beteiligte mich selbstverständlich an dem folgenden Diskurs – inwieweit die von dem Handwerker aufgestellte Theorie, Frauen seien – aus Sicht der Männer – als Stressquelle denkbar, durch entsprechende Erfahrungen verifiziert oder falsifiziert werden könnte.
Als die beiden die Treppe bewältigt und unten bei mir angelangt waren, kündete jedenfalls ein wunderbares Gelächter von dem schönsten Einvernehmen, das man in solch komplizierten Fragen nur erzielen kann.

Der Initiator der Diskussion nahm nun wieder seinen Wirbelsturmmodus an und stürmte, das Handy zückend, an uns vorbei und hinaus. Diesmal fing ich die zuschwingende Tür auf und stellte mich nach draußen, um dem immer noch lachenden Herrn das Leben etwas erleichtern zu können. Dankbar nickte er mir für diese kleine Aufmerksamkeit zu … und dann geschah etwas, was schwer zu beschreiben ist, eine Saite wurde in mir angeschlagen, die ich kenne und für die ich doch keine Worte habe – und alles an mir wurde nur noch … aufmerksam.

Er blieb gewissermaßen im Thema, und er lachte dabei genau das selbe helle, herzliche, alles nicht wirklich ernst nehmende Lachen von eben, als er Ungeheuerliches erzählte, in einem einzigen Satz:
„Mit einer Frau hat auch das hier begonnen“, sagte er und zeigte dabei auf seine Beine, „sie hat mich verlassen und die Kinder gleich mitgenommen, das hat mich so durcheinander gebracht, dass ich einen Unfall hatte und drei Monate im Koma lag.“

Wie gesagt, es war nicht die Dramatik, die in dieser kurzen Erzählung lag, welche mich so wach werden ließ, es war eher die Heiterkeit, die durch den Wechsel von einem klamaukhaften Spaß in die Vehemenz einer persönlichen Tragödie scheinbar nicht gebrochen werden konnte.
Es kam mir sehr gelegen, aus dem Augenwinkel zu sehen, dass die Gartenpforte geschlossen war, und ich bot dem Herrn an, ihn bis dahin zu begleiten, was er gerne annahm.
Mir gingen die beiden Bücher, die ich vor kurzer Zeit gelesen hatte, durch den Kopf, in denen Komapatienten über erstaunliche Erfahrungen berichteten, und ich fragte so harmlos und unaufdringlich ich konnte:
„Drei Monate im Koma! Merkt man da irgend etwas?“
Als sei keine Zeit zwischen meiner Frage und der Antwort, sagte er, selbst wie erstaunt, und doch, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt:
„Ich war drüben“ und wiederholte, während er mit einer der Gehhilfen über den Garten hinwegwies: „Ich war da drüben!“
„Ich hab’ einiges darüber gelesen, wie hat sich das denn angefühlt?“, hakte ich nach.

Und dann erzählte er. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er bisher noch nicht viel darüber gesprochen und nachgedacht hatte, es war eher, als habe er in ein Buch geschaut, den Inhalt sofort begriffen und würde dies Buch jetzt am liebsten weitergeben. „Lies du, wenn es gut ist, sag’ Bescheid“. So kam es mir vor.
„Frieden“ hatte er erlebt „da drüben“, einen absoluten Frieden und dass alles, was man wolle, sozusagen, als sei es ein Ort, dort versammelt sei, und dass es keinerlei Bedürfnis gebe, diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Und eine Art „Licht“. Aber Worte. Keines reiche aus, diesen Zustand wirklich zu beschreiben. „Das ist nichts Körperliches“.
Aber doch war ein Teil dieses Wollens, wieder zurückzukehren. „Und das“, meinte er, schon wieder etwas mehr auf dem Boden, „war hochinteressant: man merkt, wie man irgendwo anstößt, es gibt Widerstand, der zuvor vollkommen aufgehoben war, da war nichts, was Widerstand hätte leisten können, jetzt eckt man sozusagen wieder an“, hell lachte er auf und freute sich über dieses Sprachbild, mit dem er von nichts anderem erzählte als von dem Moment, als er im Begriff gewesen war, wieder in seinen Körper zurückzukehren.
„Was ist Ihnen geblieben von dem Erlebnis?“, wollte ich wissen.
„Manchmal kann ich noch an die lebendige Erinnerung sozusagen andocken, aber das ist nicht das Wesentliche: es ist mir geblieben, dass alles hier ist, hier, in dieser Welt, der ganze Friede ist hier. Aber wir müssen ihn pflücken, die Liebe drängt sich sozusagen nicht auf. Wir müssen sie einladen.“ Und nur dieses eine Mal sprach er von Liebe.
In diesem Moment verstand ich seine Heiterkeit, die von dem Drama nicht zu brechen war, und als ich zurückging zur Tür, um erneut zu klingeln, hatte er mich angesteckt mit ihr, und sie füllte wortlos den kleinen Zeitraum aus, bis der Summer ertönte, der nun einen deutlich vertrauenerweckenderen Tonfall anschlug.

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                                                        Wegkreuzung

25/3/2016

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Adrian war nicht an der gewaltigen Aura von Traurigkeit vorbeigekommen, die von der gramgebeugten Gestalt ausging und den ganzen Park auszufüllen schien, und hatte sich einfach neben die kleine, schlicht gekleidete Frau auf die Bank gesetzt. An dem weißen Kragen, dem Kollar, das er trug, konnte man ihn als Priester erkennen. Ganz jung war er nicht mehr, im letzten Jahr hatte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Aber seine Augen waren hellwach, und freundlich hatte er sie auf die Frau gerichtet, während ihn eine Art abwartender Aufmerksamkeit umgab, in die nach und nach die Traurigkeit, die seine Banknachbarin eben noch ausweglos umstellt hatte, wie einzuströmen schien, um  einer namenlosen Nähe Platz zu machen.

Ohne dass sie noch ein Wort gesprochen hatten, war zwischen beiden schon reges Gespräch. In der rechten Hand hielt die vielleicht vierzigjährige Frau ein kleines, silbernes Kreuz, das sie behutsam in ihren Fingern hin- und herwendete und von dem ein Funkeln auszugehen schien – oder eher waren es wohl die Bewegungen ihrer Hand und ihrer Finger, die im Kontrast zu ihrem eingesunkenen, düsteren Habitus voller Zartgefühl von Vertrautheit und Dankbarkeit sprachen und damit dieses Funkeln hervorgebracht haben mochten.

Hierhin hatte Adrian seinen Blick gerichtet, als er sie schließlich ansprach: „Was bedeutet Ihnen das Kreuz?“, fragte er aufblickend und der Frau jetzt in die Augen schauend.
„Ich bin krank. Sie haben es mir gerade gesagt. Im letzten Jahr erst hab’ ich meinen Mann verloren, er ist auf einer Bergtour abgestürzt. Und jetzt bin ich dran. Gibt wohl keinen Zweifel, sieht schlecht aus.“

Adrian wandte den Blick von ihr ab, lehnte sich zurück und schaute mit ungebrochener Aufmerksamkeit in die Kronen der Bäume, in die gerade ein Hauch von Grün eingezogen war. Eine ganze Weile schwiegen sie, als sei alles schon gesagt. Wie zwei Vertraute saßen sie da, und obgleich zwischen ihnen ein guter Meter Abstand war, schien es, als lehnten sich ihre Schultern aneinander an.

Schließlich ergriff Adrian wieder das Wort: „Viele wenden sich gerade deshalb vom Christentum ab, weil sie ihm vorwerfen, ein Folterinstrument als zentrales Symbol zu verwenden.“
„Die verstehen nichts“, antwortete die Frau neben ihm leise, „aber ich glaube nicht, dass ich die richtigen Worte habe“.
„Sie haben das Kreuz verstanden, nicht wahr?“, fragte er zurück, und es war ganz offensichtlich, dass er ihr keine Predigt halten wollte, sondern aufrichtig daran interessiert war, wie sie dachte.
„Ja, das Kreuz habe ich verstanden. Es hat Ihn nicht töten können.“, hörte er sie sagen und atmete tief auf,  erleichtert, sich nicht in dieser äußerlich so unscheinbaren Frau getäuscht zu haben. Ganz offensichtlich sprach sie nicht von dem, was die Kirche verstand und vermittelte, sondern von ihrem eigenen Erleben. Und sie sprach von Ihm, von Jesus.
„Obgleich er gestorben ist“, fragend, fast provozierend sah er seine Nachbarin an.
„Sein Körper ist gestorben, ja.“

Adrian lehnte sich wieder zurück und schwieg. Auf seinem Gesicht lagen die Schatten der langen Geschichte seines Werdeganges. Nicht ohne Wehmut dachte er an die Begeisterung, die ihn damals ins Priesterseminar geführt hatte.  Dann aber waren die Hierarchien, Machtgelüste, weltfremden Rituale und Dogmen der Kirche sein Alltag geworden, und nur mit großer Mühe hatte er sich von dem erstickenden Denken im Umgang mit dem Mythos freihalten können, den für ihn die Sprache des Christentums gemeinsam mit ihren Bildern und Ritualen bildeten und der nur höchst selten und nur von Einzelnen überhaupt als solcher wahrgenommen wurde. Für seinen nach Freiheit hungernden Geist war das oft zur Quelle furchtbarer Qualen geworden. Sein Bedürfnis war es immer gewesen, das Gemeinsame mit anderen Religionen und spirituellen Traditionen zu sehen, sozusagen den Pfeil überall zu entdecken, der auf den einen Mittelpunkt zeigte, aber in einer Kirche mit tief verwurzeltem Alleinanspruch auf die Wahrheit fühlte er sich damit einigermaßen allein.

„Wissen Sie“, begann er wieder zu sprechen, „Ich bin nur wegen Ihm in der Kirche. Zu Jesus hab’ ich eine Art familiäres Verhältnis, Er ist wie ein großer Bruder für mich. Ich hab’ schon als Kind fest daran geglaubt, dass es für uns alle nur eine Wahrheit geben kann. Und daran glaube ich noch immer, das IST mein Glaube! Und so hab’ ich Ihn auch verstanden!“

„Es war auch ein Kind, das mir dieses Kreuz hier geschenkt hat, als das mit meinem Mann passiert ist … lächelnd hielt die Frau Adrian das kleine Silberkreuz hin, der es behutsam in die Hand nahm. „Meine Nichte, sie ist erst acht, es war ihr eigenes, sie hat es mir einfach so gegeben …  da hat sich etwas getan in mir in diesem Moment, da hat sich was verschoben … auch wenn’ s komisch klingt: seitdem ist in mir diese Ahnung, was das ist: die eine Wahrheit.“
Adrian wendete nun seinerseits das Kreuz in seiner Hand hin und her, und es war ihm, als könne er in der einfachen Struktur und der kühlen, glatten Oberfläche all das Feingefühl und die Liebe dieses Kindes spüren.
„Es hilft mir, mich zu erinnern, an das Gute, an mein eigentliches Leben. Wissen Sie, das mit der Krankheit, das werde ich einigermaßen verkraften. Aber da ist noch mehr. Ich bin in den letzten Wochen im Internet in etwas hineingeraten, das sie Shitstorm nennen. Es war nur ein kurzer Kommentar von mir in einem Blog, der das ausgelöst hat – sie haben mich geschlachtet. Sie haben meine Worte aus dem Zusammenhang gerissen und willkürlich verdreht, nur um mich weiter angreifen zu können, und es hat kein Ende genommen. Anfangs hab’ ich noch versucht, mich zu erklären und Verdrehtes richtigzustellen. Viel zu spät erst hab’ ich gemerkt, dass sie nur noch töten wollten, sie haben jede meiner Bewegungen einfach als Angriff definiert, auf den man schießen darf und sie haben immer auf mein Innerstes, mein Vertrauen in mich selbst gezielt. Ich bin vogelfrei für sie gewesen. Das ist … ich bin fast in Angststarre verfallen. Es sind auch viele dabei gewesen, mit denen ich mich schon länger austausche, die Intimes von mir kennen. Alles ist gegen mich geschleudert worden, das hat sich dann vollkommen  verselbständigt und leider weit herumgesprochen. Meine Nachbarn und Arbeitskollegen wissen auch davon. Es ist die Katastrophe. Die ausgesprochenen Bosheiten stehen im Raum, für niemanden mehr ist zu erkennen, ob und wie ich sie mir in irgend einer Weise verdient habe. Wenn ich das über einen anderen lesen würde, ich glaub’ nicht, dass ich mich dem entziehen könnte: da muss ja was dran sein!  Ich bin geteert, gefedert und vor die Stadttore gejagt worden! Und damit komm’ ich nicht zurecht, das geht mir an die Substanz, ich hab’ kaum noch Boden  unter den Füßen!“
Während sie von diesen Vorkommnissen erzählte, schien die kleine Frau noch ein wenig mehr in sich zusammenzusinken, jetzt aber richtete sie sich etwas auf, als sie sagte:
„Und wissen Sie, was das Schlimmste ist: es ist mir klar, dass ich nicht unbeteiligt bin an dem Ganzen. Ich kann zu dem Kommentar stehen, es war eben meine Meinung zu einem gesellschaftlichen Thema, aber trotzdem war es lieblos, es war sogar gnadenlos und jedenfalls ohne jeden Raum für Vergebung, was ich da gesagt habe. Klingt komisch, nicht? Aber es ist wohl schon so, dass man die Dinge, die einem passieren, anzieht, finden Sie nicht auch?“
Adrian antwortete nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Die Tür zwischen ihm und dieser Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, stand sperrangelweit offen, alles was sie sagte, kam in gewisser Weise auch aus seinen Gedanken.

„Ich hab’ überhaupt ziemlich viel falsch gemacht in meinem Leben!“, hörte er sie weitersprechen, „wir kreuzigen uns ja jeden Tag gegenseitig, wenn wir uns anfeinden und die Schuld immer beim anderen suchen und dafür unsere tausend Gründe finden … Es ist doch grotesk: das einzige, was nie in uns sterben kann, nageln wir ans Kreuz. Aus Angst. Es ist nur Angst. Aber genau damit sind wir ohne Liebe – nein,  so kann man das natürlich auch nicht sagen … nicht ohne Liebe, das geht nicht  … sie ist ja weiter da, aber wir glauben das dann nicht mehr … das ist das eigentliche Kreuz!“

Für einen Moment vertiefte sich die Traurigkeit wieder über ihrem Gesicht, sie zögerte, bevor sie, leise geworden, sagte: „Und wir werden krank, wie ich, weil wir an diesem scheinbaren Verlust verzweifeln. Ich kann mich nicht ausschließen. Mein Glaube ist da, aber er ist nicht sehr stark. Jesus war stark, Er hat den Glauben an die Liebe nicht aufgegeben, das spür’ ich, Er ist am Leben geblieben! Das Kreuz hat ihm nichts anhaben können, Er hatte Vergebung als Antwort auf Gewalt. Gewalt ist nur Vergessen. Und das da, dieses kleine Geschenk von meiner Nichte, das erinnert mich. Die Liebe ist immer da. Für uns alle.“ Zögerlich, aber doch mit einer deutlichen Bitte zeigte sie jetzt auf das Silberkreuz, das ihr Adrian vorsichtig wieder in ihre Hand zurücklegte, wie einen großen Schatz.

„Was ist unsere Substanz, was ist unser Boden, was sind wir? … Kannst du dir vorstellen, dass wir beide in diesem Moment gar nicht krank sein können?“, Adrian hätte nicht sagen können, woher ihm diese Frage gekommen war, und auch nicht, was ihn dazu bewegte, plötzlich „du“ zu sagen, völlig unvermittelt sprach er aus, was ihm in den Sinn kam, und er blickte der Frau, die ihm jetzt viel größer und wie von einem weiten, offenen Athem umgeben vorkam, in ihr wieder hell werdendes Gesicht, das ihn und seine erstaunliche Frage in sich aufnahm, und das sich weiter öffnete und weiter und zur Antwort wurde, und als wolle er die letzten Schatten fragender Traurigkeit aus dem kleinen Park lösen, fegte ein kleiner Windstoß durch die Kronen der Bäume, deren junges Grün die letzte Starre des Winters abschüttelte und sein Einverständnis flüsterte.


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                                                   Am ende einer Reise

11/3/2016

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Das zufriedene Lächeln einer stolzen Mutter lag auf Susannes Gesicht, als sie im Rückspiegel sah, dass Svenni eingeschlafen war. Sechs Jahre zählte er jetzt  – ‘unglaublich’, dachte Susanne, ‘als wäre ich gestern noch mit ihm schwanger gewesen’. Letzte Woche hatte er Geburtstag gehabt und sich eine Reise nur mit seiner Mama gewünscht.
Sie hatten drei Tage lang Hamburg unsicher gemacht, waren im Miniaturwunderland gewesen, hatten das Rathaus besucht, eine Hafen- und eine Stadtrundfahrt gemacht und, na ja – wieder schaute Susanne in den Spiegel, diesmal aber, um sich für einen Augenblick an dem unglaublichen Rot ihres neuen Lippenstifts zu weiden – shoppen war die Mama natürlich auch ein wenig.

Sie liebte ihren Sohn sehr, nach seiner Geburt waren die letzten Schatten eines alten Lebenszweifels von ihr abgefallen, der sie begleitet hatte, seit …
Sie war damals noch jünger gewesen als Svenni jetzt, knappe fünf, als ihre Eltern sie in ein Kinderheim gebracht hatten, um allein in Urlaub fahren zu können. Sie hatte an eine gemeinsame Reise geglaubt und plötzlich war da dieses Heim gewesen, und ohne jede Erklärung war sie dort zurückgelassen worden. Ein Schatten fiel über Susannes Blick, als sie an diesen Moment dachte, den sie noch so deutlich erinnern konnte. Sie wäre fast daran gestorben. Zwei Wochen lang hatte sie sich jede Nacht mehrfach übergeben müssen und wenn Püppi nicht gewesen wäre … die kleine Stoffpuppe, die ihr die Mutter auf der Fahrt ins Heim wortlos in die Jackentasche gestopft hatte, … sie hätte das nicht überlebt, dieses bodenlose Gefühl, dass alles, was sie dachte, sagte oder tat, dass jede ihrer Bewegungen das Rätsel in ihr größer werden ließ, für das sie einfach keine Antwort hatte. Einmal hatte sie in der Sandkiste angefangen,  den Sand zu essen, getrieben von einem diffusen Gefühl, damit vielleicht etwas rückgängig machen, kitten zu können … was fehlte, das hatte wohl den Namen „Mama“ gehabt, aber was wirklich passiert war, dieser Einbruch ihres fundamentales Vertrauen, das hatte sich nur so darstellen können – sprachlos, bewusstlos ein Äquivalent suchend, das keine Erlösung ihrer Qual brachte, aber wenigstens der Ohnmacht irgendeine Gestalt gab. Löffelweise hatte sie Sand gegessen.

Sie hatte auch später nie mit ihren Eltern darüber gesprochen, aber seit dieser Zeit hatte es in ihrem Fundament einen Riss gegeben, der ihr die Leichtigkeit genommen hatte und sie grüblerisch hatte werden lassen.
Aber er war geheilt! Susanne tauchte aus ihren Erinnerungen auf und blickte noch einmal kurz in den Rückspiegel: seit er da war, Svenni, war auch ihr Vertrauen wieder heil,  die Unsicherheit war nur noch zu spüren in ihrer Erinnerung, aber nicht in dem,was sie jetzt war, der Riss war geheilt, ihr Kind hatte sie wieder davon überzeugt, dass es gerechtfertigt war, an Vertrauen als den eigenen Boden zu glauben.

Sie trug ihren Eltern, die längst gestorben waren, schon lange nichts mehr nach. Erleichtert atmete sie auf, froh, dass diese Erinnerungen jetzt noch einmal aufgetaucht waren, weil sie dabei merken konnte, dass die Liebe, die sie zu ihre Eltern spürte, nicht mehr von diesen Erinnerungen verdeckt werden konnte.
Susanne hätte am liebsten geweint vor Glück in diesem Moment, aber sie fürchtete, Svenni werde aufwachen und zu viele Fragen stellen. Und überhaupt war sie froh, dass er schlief, er war von den vielen Eindrücken ziemlich aufgedreht gewesen in den letzten Stunden, der Schlaf tat ihm sicher gut.

Sie fuhr den Klosterwall hinauf in Richtung Hauptbahnorf und sah schon aus einiger Entfernung, dass an der großen Kreuzung ein Wagen bei Rot hielt, auf den von der Seite her eine beeindruckende Gestalt zuging, zweifellos ein Bettler, der die halbe Minute erzwungener Wartezeit ausnutzte, um die Fahrer um Geld zu bitten. Beeindruckend war die Größe des Mannes, ein Riese, sein vollkommen verwahrlostes Äußeres und das unglaubliche Chaos seiner Bewegungen, das nicht mehr nur mit Alkohol zu erklären war. Susanne drosselte unwillkürlich ihr Tempo und rollte ganz langsam weiter, zwanzig Meter waren es vielleicht noch, bis sie würde halten müssen. ‘Ein Verrückter’, kam ihr in den Sinn, ‘was macht der da?’, und sah, wie der Mann eine Art Veitstanz vor dem schon haltenden Wagen aufführte, dessen Fahrer durch das geschlossene Fenster mit heftig abwehrenden Bewegungen zu erkennen gab, dass er nichts zu geben entschlossen war.
Susanne hielt in ungewöhnlich großem Abstand zu ihrem Vordermann an, ‘vielleicht’, dachte sie, ‘ist es ihm zu weit und er kommt gar nicht her’, spürte aber , dass sie dabei einer Reaktion folgte, die gar nicht zu ihrer Gestimmtheit passen wollte. Sie fühlte in diesem Moment eigentlich nichts außer einer Art tiefer, offener Neugier.
Der Mann gab sein Ansinnen bei dem ersten Wagen auf und wendetet sich jetzt ihr mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes zu,  sein langes wildes Haar schien dabei entgegen aller physikalischen Gesetze in eine selbstgewählte Richtung davonzufliegen.
Er schaute Susanne direkt in die Augen, hielt den Blick länger, als sie es ihm zugetraut hätte. Schließlich griff er  in seine Manteltasche, hatte plötzlich einen Apfel in seiner rechten Hand und holte weit aus, um ihn als Wurfgeschoss in ihre Richtung zu schleudern.

Im letzten Moment hielt er die Bewegung auf und ging auf ihren Wagen zu. Susanne konnte jetzt lesen, was auf dem Schild stand, das er sich um den Hals gehängt hatte, in krakeligen Buchstaben wurde da von einer kleinen Tochter berichtet, die er zu versorgen habe.
Susanne sah das Bild eines kleinen Mädchens neben diesem Mann vor sich und sie spürte die Neugier weichen und etwas Platz machen, das sie überraschte, weil auch jetzt, als er immer näher kam, ihr Eindruck nicht zu leugnen war, dass es ein Wahnsinniger war, der da auf sie zukam. Und deshalb staunte sie darüber, dass sie nicht den leisesten Hauch von Angst empfand, aber das war noch nicht das Eigentliche: sie empfand vielmehr, dass sie ihm etwas zu sagen habe, bzw. zu geben, ohne zu wissen, was das genau sei, und ohne zu zögern ließ sie ihre Fensterscheibe herunter.
Jetzt war er direkt neben ihr und wiederholte seinen unheimlichen Tanz, gestikulierte dabei wild mit seinen Armen und Händen, aus seinem zahnlosen Mund kamen unheimliche Laute und sein Gesicht verzog sich zu grotesken Grimassen, während er ihr   immer wieder kurz die Hand hinhielt: ’sprich mich nicht an, ich will nur Geld’, las Susanne an der Oberfläche dieser traurigen Theatralik.

„Hör’ mal“, sprach sie ihn dennoch  in einem milde-vorwurfsvollen Ton an, immer noch getragen von ihrem Gefühl, ihm etwas geben zu sollen, „du wolltest mit einem Apfel auf mich werfen, und jetzt willst du Geld von mir?“
Für einen Augenblick schien aller Wahnsinn von dem Riesen zu weichen, der mit seinen wirren Bewegungen und seinem Kauderwelsch schlagartig aufhörte und Susanne anschaute, als habe ihn seit vielen, vielen Jahren endlich einmal wieder jemand als einen verständigen Menschen angesprochen, … nein, das war noch mehr … als habe ihn jemand seit Urzeiten wieder als Mitmenschen angesprochen.
Susanne nahm einen Euro aus ihrer Geldtasche und hielt ihm die Münze hin. Langsam  formte er seine Hände zu einer Schale, so sorgfältig, als solle eine höchst wertvolle Flüssigkeit eingefüllt werden, von der nichts verloren gehen dürfe, und ließ sich von ihr das Geld hineinlegen. Dabei streifte ihre Hand die seine, und da war in diesem einen Moment … – Susanne war sich ganz gewiss – auch bei ihm: nicht ein Hauch von Angst. Und nicht die Spur von Wahnsinn.

Als sie weiterfuhr, schaute sie nach hinten zu Svenni, er hatte nichts mitbekommen, und Susanne war froh darüber. Im Außenspiegel sah sie noch, wie der Mann langsam wieder auf den Fußweg zurückging. ‘Du hast mehr Sand essen müssen als ich’ dachte sie, ‘aber deswegen hab’ ich Dich erkannt, es war derselbe Sand’.


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                                                    Des Bettlers Gabe

7/3/2016

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Ich könnte nicht mehr sagen, wie er heißt, er hat es mir mal verraten, das ist bestimmt fünfzehn Jahre her. So lange kennen wir uns schon, nein, länger noch, zwanzig, vielleicht sind’s sogar fünundzwanzig Jahre. Früher hat er immer an der Hoheluftbrücke gesessen und ist dann irgendwann nach Eppendorf umgezogen, etwa vor zehn Jahren, denke ich. Seitdem hat man ihn immer an der selben Stelle gesehen, ganz in der Nähe der U-Bahnstation Eppendorfer Baum, dort, wo eine Straßenbrücke über den Isebekkanal führt. In den letzten Jahren hat er einen Rollator dabeigehabt, der ihm nicht nur beim Gehen geholfen, sondern ihn auch von der Not befreit hat, ständig auf dem Boden sitzen zu müssen. Sein Revier, den Eppendorfer Baum mit seinen vielen eher noblen Geschäften, hat er sich mit drei Anderen geteilt, einer blonden Frau in immer dem selben langen Mantel, die auf der anderen Seite der Straße ebenfalls auf der Brücke heimisch gewesen ist, und den Zwillingen, die vor dem Feinkostladen in der Nähe des Klostersterns auf sehr zurückhaltende und höfliche Art versucht haben, die Obdachlosenzeitschrift „Hinz&Kunzt“ zu verkaufen.

Mit einem ganz speziellen Blick hat er die Vorbeigehenden angeschaut, eben nicht bettelnd, sondern ausdrückend, dass er durchaus auch etwas zu geben habe. Und ist man dann stehengeblieben, hat er angefangen zu reden. Es ist niemals ein wirkliches Gespräch zwischen uns daraus geworden, weil er bei jedem meiner Versuche, mich sprachlich zu beteiligen, sozusagen einen Zahn zugelegt hat und aus seiner Rede erst einen Monolog und schließlich eine Art Litanei hat werden lassen, die inhaltlich zunehmend  schwerer zu fassen gewesen ist. Mein wahrscheinlich auch von ihm zugedachter Teil an der Begegnung hat also in der Regel lediglich darin bestanden, in meinen Hosentaschen nach Münzen zu kramen. Und doch ist tatsächlich in dem, was er dabei gesprochen hat, eine Art Geschenk für mich gewesen. Wie soll ich das sagen? Manchmal ist für mich zu empfinden gewesen, dass er nicht mehr und nicht weniger Bettler ist als ich.

Einmal öffnet er seine Jacke und holt einen schmierigen, dicht beschriebenen Zettel hervor. Er schreibt Gedichte, oder besser eine Art lyrische Prosa. Dieses Gedicht, das sei im letzten Jahr beinahe veröffentlicht worden, leider habe er denjenigen, der ihm das versprochen habe, einfach nicht mehr finden können, meint er ein wenig traurig und in ungewohnter Klarheit. Es ist ein sehnsuchtsvolles Gedicht über Ameisen, und jedes zehnte Wort ist „geschwisterlich“.
Diesen Punkt, den habe ich verstanden. Und damit meine ich: in mir wiedererkannt.

Jetzt ist er scheints verschwunden, wie auch seine drei Kollegen. Statt ihrer zählt man auf der Meile acht professionelle Bettler, die morgens mit einem Transporter hergebracht werden und dann ihre Behinderungen zur Schau stellen. Einer sitzt angelehnt an eine Schilderstange, mit dem Kopf unter dem Abfalleimer, der an ihr befestigt ist, direkt vor dem Eingang zum Supermarkt. Den mit der viel zu kurzen Krücke, die ein Gangbild erzwingt, das einen schaudern lässt vor so viel Körperverkrümmtheit, habe ich neulich quietschfidel über den Isemarkt hüpfen sehen. Andere haben tatsächlich teils erhebliche körperliche Behinderungen.
Es ist zwar anders. Betteln ist nicht gleich Betteln. Hier ist Habenwollen und Gebenmüssen zu spüren, die Show, die Taktik. Der Betrug. Und eine Eiseskälte. Aber ich frage Dich ….

… mein lieber verschwundener Poet, geben wir auf?
Geben wir auf, daran festzuhalten – mit einem Ameisengedicht über dem Herzen oder sonst irgendwie – dass unser Gefühl von Geschwisterlichkeit höchstens unter dem Müll von Hass, Schuldzuweisung und Angst verdeckt werden, aber nie ganz sterben kann … weil wir das SIND, egal, was wir denken: Geschwister?
Geben wir auf?


                                                                                                                                                     *
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                                              Ein HErz und zwei Seelen

22/2/2016

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Es sind nur rund dreißig Meter von der Bushaltestelle bis zur Musikhalle, aber die haben es in sich! Luise und Martha, beide so um die zwölfundsiebzig, schicken sich an, kurz vor dem zu erwartenden Musikgenuss – Brahms, Beethoven, Tschaikowsky – eben noch die letzten Fragen zu klären. Gut gelaunt sind sie dem Bus entstiegen und haben dabei ein Lächeln auf die Gesichter der anderen Fahrgäste gezaubert,  indem sie sich an der Tür aus lauter Höflichkeit erst nach zähen Verhandlungen haben einigen können, wer als Erste den Bus verlassen dürfe  und die schließlich derart ermittelte Inhaberin dieses Vorrechts sofort nach Kontakt mit Mutter Erde der Nachkommenden galant die Hand gereicht hat, um ihr bei der Überwindung des nicht unerheblichen Höhenunterschiedes zwischen der letzten Stufe und dem Gehweg eine Stütze zu sein.

Während der Bus sich mit einem kleinen Ruck wieder in Bewegung setzt, der ausreicht, das Lächeln auf den meisten Gesichtern wieder in Vergessenheit geraten zu lassen, haben sich die beiden Damen beieinander eingehakt und nehmen ihrerseits langsam Fahrt auf in Richtung Musikhalle.
„Es war hochinteressant“, knüpft Martha, noch ganz entzückt über die Handreichung ihrer Freundin, an ein Gespräch an, das wohl schon im Bus begonnen worden ist:
„Ein richtiger Professor! Man weiß das ja alles gar nicht! Leider, leider hab’ ich meine Hörgeräte nicht so schnell gefunden …“
„Oh, das kenn’ ich!“, tröstet sie Luise, „es läuft gerade was Interessantes und du kriegst nur die Hälfte mit, weil du die Dinger wieder mal irgendwo hingelegt hast … war das im NDR?“
„NDR Kultur, in der Reihe: ‘Glaube in unserer Zeit’, und das Thema war: ‘Was ist die Seele?“
„Ohhh, die Seele“, Luise schaut sinnierend nach oben, lässt aber dann offen, was sie selbst von einer solch schwer zu fassenden Sache wie der Seele halten möchte: „Und was meint der Professor dazu?“, fragt sie ihre Freundin, ganz offensichtlich froh über die Möglichkeit, zunächst die angekündigte Meinung des Radioprofessors einfordern zu können, auf die sie ja dann gegebenfalls reagieren könnte.
„Also wie gesagt, ich hab’ ja nur die Hälfte verstanden, aber die Seele scheint ganz unabhängig von den Genen zu sein, aus einem Zusammenspiel von Erziehung, Umwelteinflüssen und so zu entstehen“, meint Martha, etwas unglücklich über ihre Unfähigkeit, den Radiobeitrag nicht packender zusammenfassen zu können. Es entsteht so etwas wie ein leichtes Vakuum zwischen den beiden, in das aber jetzt für Luise eine glasklare Definition der Seele einzuströmen scheint:
„Also an eine Seele an sich … glaub’ ich ja nicht“, sagt sie, um die Sache gleich mal im Wesentlichen einzugrenzen, „für mich ist die Seele das Miteinander von Gehirnzellprozessen und den Hormonen!“, meint sie, sehr entschieden jetzt, und Martha, ständig nach weiteren Details aus der Radiosendung kramend, erinnert sich:
„Auf jeden Fall ist sie angeblich sehr leicht zu beeinflussen!“
„Genau“, antwortet Luise, „mit Tabletten!“

Man hat sowieso gerade die Hälfte des zurückzulegenden Weges geschafft, aber auch ohne diesen äußeren Grund für eine kleine Verschnaufpause wäre Martha wahrscheinlich stehengeblieben, denn die letzte Bemerkung ihrer Freundin stürzt sie in wahre Verzweiflung, geht doch damit das Gespräch in eine Richtung, die ihr zu der Essenz der leider von ihr nur unvollständig memorierbaren Radiosendung gegenläufig zu sein scheint.
„Luise!, nein!!, nicht mit Tabletten, mit guten Gedanken!!“, ruft sie geradezu aus, und man sieht ihr die Freude darüber an, dass ihr gerade zu rechten Zeit doch noch ein wesentliches Detail des Vortrags ins Gedächtnis gekommen ist: genau das hat er gesagt, der Herr Professor: „mit guten Gedanken“!

Luise lässt sich natürlich nicht so leicht von ihrer Position verdrängen, und während die beiden langsam weitergehen, schüttelt sie nachdenklich den Kopf:
„Also nein, gute Gedanken …. das ist ja schon fast mystisch … ich kann nur sagen, dass meine Seele auf eine kleine Schlaftablette abends bestens reagiert.“
Die arme Martha schwankt zwischen dem Stolz, eine wesentliche Aussage des Vortrags erinnert zu haben und der Faszination über die schlichte, aber ihr höchst einleuchtend erscheinende Position Luises, vor allem aber über die Beweiskraft chemischer Beeinflussung, die ja wohl nicht zu leugnen ist, und holt aus dem hintersten Winkel ihres Wissens über physiologische Zusammenhänge ein Faktum heraus, von dem sie sich verspricht, wieder auf Augenhöhe mit Luise zu kommen:
„Aber wenn du gute Gedanken hast“, sagt sie doch etwas tonlos, „dann wird ja auch z.B. Serotonin ausgeschüttet.“
Aber da ist nichts mehr zu machen, in Luises Gesicht spiegelt sich das Summa summarum des Gesprächs: Serotonin ist o.k., aber die Schlaftablette ist zuverlässiger!

Die beiden scheinen mir noch ein wenig näher zusammengerückt zu sein, als sie den Eingang der Musikhalle erreichen, und jetzt ist es natürlich Luise, die Martha die Tür aufhält und sie als Erste durchgehen lässt. Und dann tauchen sie ein in die Welt dreier Meister der Seelendurchflutung und rezeptfreien Serotoninspiegelerhöhung, und wer weiß, ob der Professor auch nur die leiseste Ahnung davon hat, wie sehr sich bewahrheitet, was er sagt, und dass auch scheinbar sich ausschließende Standpunkte, wenn sie einen kleinen Umweg übers Herz machen, ein und dasselbe meinen können: „Du tust mir gut, schön, dass du da bist!“


                                                                                                                                                     *
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Kleines Gespräch über einen vakuumverpackten gott

16/2/2016

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 “Man hat sich in meinem Freundeskreis schon gewundert, warum ich in letzter Zeit so viel von Gott spreche: ich sei doch eigentlich sehr intelligent!”
Sie lacht hell auf: “Eigentlich!! – na gut, ich versteh’s ja: die das sagten, wissen nichts von meiner Krankheit, aber dieses “eigentlich” ist doch zu köstlich, finden Sie nicht auch? ”
Sie hat mich angesteckt mit ihrer Heiterkeit und wir kichern eine ganze Weile vor uns hin wie Kinder, die wieder mal ein paar Erwachsene dabei erwischt haben, mit ernster Miene klugen Unsinn zu reden.
„Unsere Zeit kennt keinen Gott mehr, wir brauchen keinen“, sagt sie immer noch glucksend, „wir haben uns alle unsere Fragen selbst beantwortet.”
„Der Zeitgeist hat sich selbst gegoogelt“, erwidere ich und sie schaut jetzt etwas nachdenklich, als sie sagt:
„Ich empfinde das wie ein Vakuum. Da fehlt etwas ganz Essentielles. Es gibt eigentlich so etwas wie ein „Abendland“ gar nicht mehr, wir glauben doch nur noch an die Freiheit der digitalen Information und den Profit. Vielleicht kann man sagen, wir haben die arbaischen Flüchtlinge mit ihrem – ganz wertfrei gesprochen – noch existierenden ethisch-moralisch-religiösem Sozialverbund regelrecht gerufen, dieses Vakuum zu füllen. Das ist so …“
„Sprachlos“.
„Ja, sprachlos … wissen Sie, ich geh’ da jetzt rein zu meinem Arzt. Er ist so rührend besorgt um mich. Er will mich unbedingt retten. Soll er auch, also, ich hab’ nichts dagegen, aber es spricht nicht viel dafür, dass es klappt. Und dann sitzt er da und wühlt in seinen Unterlagen und dreht und windet sich und es ist ihm furchtbar unwohl. Bis ich ihm sage – und das tue ich immer wieder – dass er doch alles unternehme, was machbar sei, und dass der Rest nicht in seiner Hand liege. Dann atmet er auf und ist erleichtert.
Aber ich muss das jedesmal wiederholen. Er glaubt es von sich aus nicht. Dass wir in Gottes Hand sind, und dass uns das angstfrei machen kann, weil es die Hand der Liebe ist … für mich ist das wahr.“
„Ich glaube, wir sehen uns erst mal nur selbst“, sage ich, „und beschränken unsere Kommunikation auf das, was wir verstehen. Dass das, was wir nicht verstehen, die Kommunikation mit uns nie aufgegeben hat, das müssen wir erst erfahren, wie jetzt z.B.: wir kennen uns seit fünf Minuten und sprechen wie Vertraute über diese Dinge, ist das zu fassen?“
„Ist es nicht, mein Lieber, ist es nicht, machen Sie’s gut!“
„Sie auch, machen Sie’s auch gut, und hey, Sie! Eigentlich sind Sie ganz schön intelligent!

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                                                             ENGELSKUSS

3/2/2016

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Sie lacht immer noch, als sie an mir vorbeikommt. Immerhin sind es mindestens fünfzig Meter vom Ausgang der U-Bahn bis hierher, und mach’ das mal: über fünfzig Meter lang ein fröhliches Lachen beibehalten!
Sie ist schon gut gelaunt die Treppen hochgekommen und mit ihren wehenden blonden Haaren an dem Bettler vorbeigestürmt, der auf der obersten Stufe sitzt und seinen Pappbecher hinhält. Nach ein paar Metern aber hat sie sich umgedreht und ist zurückgegangen, hat ihm etwas in seinen Becher hineingeworfen und ihm freundlich zugenickt. Der Bettler hat seinen Flachmann nur kurz abgesetzt, soweit ich gesehen habe, nichts weiter gesagt, und auch gleich wieder die Nähe seines flüssigen Freundes gesucht.
Seitdem lacht sie, wie alt wird sie sein? Fünfundzwanzig vielleicht. Und besteht im Moment grob geschätzt zu hundert Prozent aus Lebensfreude. Ein beruhigtes schlechtes Gewissen kann  auch mal lachen, denk’ ich, als sie an mir vorbeikommt, aber das sieht anders aus! Es ist ihr die Freude einfach übergeflossen, und auch wenn der Bettler jetzt eine Miene macht, als habe er außer dem Geräusch der Münze, als sie in seinen Becher fällt, nichts weiter bemerkt, hat sie doch seine Wand durchbrochen … ich kann es sehen, mit welchem Auge auch immer, ich sehe es ihm an, auch auf fünfzig Meter Distanz! So schnell kann eben kein Flachmann sein, einen Engelskuss zu verhindern!


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                                                             KIRCHGANG

31/1/2016

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Wir kennen uns nur flüchtig, und er wäre sicher mit einem kurzen Gruß an mir vorübergegangen, wenn ich ihn nicht staunend ob seines edlen Sonntagsoutfits angeschaut hätte. So bleibt er kurz stehen und erklärt sich:
„Ich muss in die Kirche da hinten, Kindstaufe, kleine Familienfeier“, sagt er in einem Ton, der mir eindringlich vermitteln soll, dass er kein gewohnheitsmäßiger Kirchgänger sei, was ihm offensichtlich wichtig ist, klarzustellen.
„Ah!, ja dann wünsch' ich einen schönen Tag!“, antworte ich meinerseits in Tonfall und Gestik Verständnis bekundend für das Potenzial der Situation, in dieser Hinsicht Missverständnisse hervorbringen zu können.
Er hebt schon die Hand zum Gruß, um weiterzugehen, hält dann aber inne, nimmt die Hand wieder herunter und blickt zu Boden:
„Vielleicht“ sagt er jetzt mit einer ganz anderen Intensität, „vielleicht kann ich das aber auch nutzen, um zu beten ...“ - ich weiß nicht, ob es die Überraschung ist, dieses Wort von ihm zu hören, oder ob ich wirklich … jedenfalls kommt es mir so vor, als habe ich noch nie jemanden derart bedeutungsvoll das Wort „beten“ aussprechen hören - „meine Frau will sich von mir trennen, sie will sich scheiden lassen!“
Jetzt schaut er mir mitten ins Gesicht, und da ist nur nackte Offenheit, nichts sonst: 'Ich weiß nichts mehr, sag' Du!'

Was ist „Beten“ anderes als das! Am Ende des eigenen Begreifens nach einem Raum zu suchen, in dem wieder Antwort ist.
Für einen Moment waren wir beide in der Kirche, sozusagen, ich nicht weniger als er, im prächtigsten Dom der Welt: im Erkanntwerden und Wohlwollen eines anderen Menschen.


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                                                            ZEITSPRUNG

13/1/2016

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“Wir waren seelenverwandt!”, die Augen werden ihr ein wenig feucht,  als sie weiterspricht: “Er ist immer so aufmerksam gewesen und hat  mir  gezeigt,  wie gern er mit mir zusammen ist. Und wenn er gehandelt hat” – hat sie “gehandelt” gesagt? – “dann hat man gemerkt, dass er bemüht gewesen ist, mir keinen Kummer zu bereiten. ”
Sie spricht von ihrem Hund,  den Sie hat einschläfern lassen müssen: “Er hat mich drum gebeten, ich hätt’s sonst nicht geschafft,  aber er hat mich drum gebeten, mit seinen Augen,  ich hab’s aus Liebe getan.”
Erstaunlich: nichts kommt mir schräg vor an ihren Worten, ganz im Gegenteil, ich hör’s fast wie ein Gedicht, das sein Ziel erreicht hat, mir mitzuteilen, was es jenseits der Worte eigentlich sagen will. Ja, ich glaub’, ich hab’ dich verstanden, und das “war” klingt mir jetzt wie Gegenwart: „Wir sind seelenverwandt!“

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                                                   DIE ENTSCHEIDUNG

7/1/2016

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„Gestern hat mich eine Freundin angerufen“, sagt sie leichthin, als ginge es um Alltäglichkeiten, „sie haben bei ihr genau dieselbe Krankheit festgestellt, in demselben Stadium wie bei mir, als ich die Diagnose gestellt bekam – aber sie hat sich für Operation und Chemo entschieden. Ich hab’ ihr zugeraten, es ist sicher richtig, was sie tut.“
Es schwingt kein Zweifel an ihrer eigenen Entscheidung in ihrer Stimme mit, als sie fortfährt: „Sie hängt am Leben, auf diese sorgenvolle, ängstliche Weise, und sie hat zwei Kinder, da denkt man vielleicht ohnehin anders, sie ist auch etwas jünger, ich bin jetzt fünfundsiebzig.“
Keinem ihrer vielen Freunde vertraut sie sich zunächst an, sie weiß, dass niemand ihren Entschluss mittragen könnte, und sie will niemanden in Bedrängnis bringen. Eine eigene Familie hat sie nicht mehr. Nur mit ihrem Arzt spricht sie. Sie kennen sich schon lange, und ihr Blick senkt sich, ihre Wimpern zittern, als sie sagt: „Wir mögen uns“. Er ist kreuzunglücklich darüber, dass sie ihm nicht erlauben will, ihr zu helfen, weil er wirklich davon überzeugt ist, dass er Erfolg hätte.
Sie aber spürt in sich nur ein großes, helles „Ja!“ zu ihrer Entscheidung und die Bereitschaft, zu sterben, wenn es denn so sein solle. Der Arzt kann sie nicht umstimmen und stellt die düstere Prognose, dass sie ohne Behandlung nur noch wenige Monate zu leben hätte.
Und wirklich geht es ihr ein knappes halbes Jahr später zunehmend schlechter, schließlich kann sie sich nicht mehr selbst versorgen. Der Arzt besorgt ihr voller Kummer einen Platz im Hospiz. Jetzt erst informiert sie ihre Freunde und verabschiedet sich von ihnen. Noch einmal versuchen viele derer, die ihr nahestehen, sie zu einer Behandlung zu bewegen. Es sind aufregende Momente für sie, aber sie bleibt fest. Als sie im Sterbehaus eingezogen ist, überprüft sie zum letzten Mal ihre Entscheidung.
„Da war immer noch dieses „Ja“, wissen Sie, ein „Ja“ ohne Schatten, Sie wissen doch, was ich meine?, das war erst der Augenblick, in dem ich mich endgültig entschieden habe, und glauben Sie mir: ich war unendlich erleichtert danach.“
Von Tag zu Tag geht es ihr besser und als sie weitererzählt, funkeln ihre Augen: „Schließlich hab’ ich meine sieben Sachen zusammengepackt und bin nach Hause gegangen!“
Der Tumor ist wohl noch da, aber er „belästigt“ sie nicht, wie sie sagt, „ich hab’ ihn akzeptiert, und wissen Sie, was das Erstaunlichste ist: das Ganze war vor vier Jahren!“

Ihren Fernseher hat sie verschenkt und hört nur noch Radio, will sich selbst ein Bild machen von dem, was sie hört. Und überhaupt: „seitdem“ ist alles ein wenig anders: jede aufblühende Blume, jedes Lachen, jedes freundliche Wort ist wie eine Erinnerung geworden an die einsamste und für sie wichtigste Entscheidung ihres Lebens … und als sie das sagt und mich dabei anschaut, sehe ich in ihren Augen dieses helle „Ja“, und nicht den leisesten Schatten eines Zweifels.


                                                                                                                                                    *


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                                                    Weihnachtsfeier

13/12/2015

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“Gesund ist das auch nicht!”, sagt er mit einem schwer einzuordnenden Akzent und massiert sich dabei mit zwei Fingern die Schläfe, “ich komm’ grade von unserer Weihnachtsfeier – das ist auch eine Frage des Alters, bin über fünfzig, kann das einfach nicht mehr so gut wegstecken.”
Dann nimmt er erst mal mit größter Vorsicht einen kleinen Schluck aus dem Pappbecher, den ihm Hanna inzwischen auf den Tresen gestellt hat, Hanna, die schwarze First Lady der Bäckerei, bei der ich mir morgens immer meinen ersten Kaffee besorge.
Gerade hat sie mir noch erzählt, dass die Freundin, die ihr die Haare schneidet, für die neue Frisur vier Stunden gebraucht hat, und jetzt lässt sie ihre Ohren ein ganzes Stück aus dieser beeindruckenden Explosion ihres Kopfschmucks herauswachsen, um mitzukriegen, was da so erzählt wird.
“Und ich muss noch nach Antwerpen, ich bin Belgier, Kapitän, wir laden heute Gefahrgut, da muss ich dabei sein”. Wieder nimmt er behutsam einen Schluck Kaffee, schüttelt den Kopf, als verstünde er die Welt nicht mehr, schaut mich mit reuigem Blick an und sagt: “Nee, Sie, das war nicht gut – wissen Sie, ich bin Buddhist! ”
“Macht nichts, kleiner Rückfall!”, sage ich lachend und stecke ihn an damit, und dann glucksen wir noch eine Weile beide in uns hinein, wohl das selbe Bild betrachtend: der Buddhist und die leicht ausufernde Weihnachtsfeier.
Einen Augenblick nur schaut er mich an, ob ich noch bliebe, ob ich verstehen würde, was er mir gleich erzählen will, und dann wird er ernster: „Das war damals während des ersten Golfkriegs, als der iranische Jumbo von den Amerikanern abgeschossen worden ist. Da bin ich auch schon zur See gefahren und bei den Bergungsarbeiten dabeigewesen. Wir haben so viele Leichen aus dem Wasser gezogen! Schließlich sind wir auch noch beschossen worden und ich hab’ Freunde von mir sterben sehen. Du kommst an den Punkt, wo du nicht mehr denken kannst: ‘Das ist der Wahnsinn der anderen’, wissen Sie! Ich hab’s mit der Angst zu tun bekommen. Hab’ dann Urlaub genommen, bin nach Thailand geflogen und in ein Kloster gegangen, hab’ mich erst mal ein paar Tage nur hingesetzt und meditiert. Um nicht … um nicht …“ „verrückt zu werden“, sage ich und er nickt: „Ja, um nicht verrückt zu werden.“
Hanna hat uns inzwischen zwei weitere Kaffee spendiert und auf den Tresen gestellt, und es gibt eine kleine Pause, in der sich der Belgier sammelt und noch einmal ganz zurückgeht in die Zeit damals. „Ich bin dann Buddhist geworden“, sagt er schließlich, „also richtig eingeweiht und für eine Weile als Mönch in das Kloster aufgenommen worden. Ohne Schuhe, in ganz einfachen Gewändern sind wir jeden Tag auf die Straße gegangen und haben die Menschen um etwas zu essen gebeten, das war ein wichtiger Teil unserer religiösen Übung. Und wissen Sie was, das hat mich gerettet, irgendwann hat sich wieder das Gefühl in mir durchgesetzt, dass immer alles da ist, was man braucht, dass die Willkür und der Wahnsinn nur Episoden sind, Blindheiten, die nichts an dieser Tatsache ändern: es ist gesorgt für uns. Verstehen Sie?“
Anstatt zu antworten, schau’ ich ihn nur an, und Hanna drückt, wie um sich dem störenden Anblick von Geld zu entziehen, ihre Kasse zu. Und ich will der Weihnachtsmann sein, wenn da nicht der Buddha zwischen uns gelächelt hätte.

                                                                                                                                                     *
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Rückwärtsdurchdendunklengangwandergedanken

5/12/2015

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Herzlichen Dank der Autorin dieses Textes,  Käthe Knobloch.
Text, Kommentare und ein Foto vom Licht am Anfang und am Ende des Tunnels hier:

BITTEMITO
Weißt Du, ich lerne immer besser rückwärts durch dunkle Gänge zu gehen. Nein, nicht durch alle, nicht durch diesen einen dunklen Gang, den möchte ich nie wieder betreten. Nicht mal vorderbeweglich. Ich habe jetzt meinen eigenen Gang, der hat vorne und hinten ein Licht. Und wenn ich so rückwärts durch meinen Gang gehe, da kanns schonmal passieren, daß ich mich ein wenig drehe und zack, stehe ich mit dem Rücken zur Wand. Und natürlich gangwärts bedingt auch vorderbebend. Aber das heißt dann Stillstand. Und den will ich nicht. Ich gehe weiter lieber in das Licht hinein, renne seitwärtsstillstandsblind bis sich Mond und Sonne gegenüberstehen und Schatten nicht bedrohlich erscheinen. Und genau das wünsche ich Dir auch. Stehe auf und gehe weiter, Dein Gang ist noch lange nicht zu Ende. Möge er genauso vorderrückseitshell Dir erscheinen wie meiner. Auch wenn es um Dich dunkel ist. Was Dich umdunkelt, es ist nur zwischengangzeitlich…

                                                                                                                                                      *

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