Mit freundlicher Erlaubnis
des Autors Achim Elfers
aus seinem Buch "Das glaubst du ja nur!",
Verlag Ch. Möllmann, Borchen, 2.Auflage 2016
„Gott sei Dank bin ich Atheist! Ich komm’ wunderbar ohne Gott aus!“
Nach einer scharf gepfefferten Geistvermeidungsrede sprach seine Schwägerinn Rêverie triumphalischer Laune dies Bekenntniss aus, hob derweil ihre Arme wie eine Siegerinn nach einem Kinderwettrennen. Frieder staunte immer wieder ob solches Getues, solches ihm leichtfährtig klingenden Sprechens und ihm flach erscheinenden Denkens.
„Wunder-bar mit einfachem ‚a’? Oder ‚wunder-bahr’ mit ‚ah’? Wie meinst du das? Du kommest bar jedes Wunders ohne Gott aus?“, stichelte er mit geheuchelt sanfter Stimme.
Sie aber kannte ihn und entgegenete hochmütig lachend: „Tu doch bloß nicht so! Du weißt doch genau, wie ich das meine!“
Frieder ließ sich jedoch so nicht abwimmeln und fragte: „Ich vermute, ich wisse es, aber sprich: Was denkst du ernstlich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzu, dass du ‚wunderba(h)r ohne Gott auskommest’?“
„Ernstlich? Eigentlich nichts. Wer glaubt schon an Wunder? Das tun doch nur Kinder, Naive und Irre.“
„Und spirituelle Christen.“
Rêverie antwortete zuerst mit erkünsteltem Lachen; dann fragte sie: „Ach ja? Und was ist ein Wunder?“
„Das weiß ich nicht. Vermutlich nennt der Name ‚Wunder’ nichts Eigenständiges. Aber ich weiß zu bekunden, was ich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzudenke; nämlich, dass im Wunder dem Menschen eine Schauweise neben der gemeinen alias normalen Sichtweise angeboten werde.“
„Wie meinst du das?“
„Wir sehen alltäglich, unablässig und gemeinhin in der insofern normalen Sichtweise, als diese der gemeinen Norm genügt. Diese Sichtweise nenne ich (und nicht nur ich) das ‚Ego’. Das ‚Ego’ ist mir der Name für die Sichtweise der Trennung und Vereinzelung, in welcher der Mensch als ein von innen bewegter Cörper gesehen wird, der unter tausenden anderen Cörpern ein Einzelleben führe, bis er stirbt, was als sein „Tod“ erachtet wird. Das Wunder als Angebot einer Weise des Schauens hebt die Trennung und Vereinzelung auf. Per exemplum mag jemand denken, er sei allein, weil er schon elf Menschen vergeblich fragte, ob sie ihm helfen könnten, und sie Alle verneinten. Aber dann, als er schon aufgegeben hat und niemanden mehr zu fragen bereit ist, kommt ein Zwölfter und lächelt ihm entgegen. Er hilft ihm. Darin erachte ich das Wunder: Mit einem unerwarteten, ja: als „möglich“ ausgeschlossenen Male wird dem Verzweifelten gezeigt, dass er doch nicht allein ist.“
„Hast du das so erlebt?“
„Ja. Ein Taxi-Chauffeur stand am Flughafen an erster Stelle und als Fahrgäste bei ihm eingestiegen waren, sprang sein Wagen nicht an. Er fragte bei seinen nächsten elf Collegen, ob sie ihm Starthilfe geben könnten; die darfür erforderlichen Starterkabel habe er. Aber alle elf Collegen verwiesen darauf, dass durch Starthilfe die elektronischen Geräte in ihrem eigenen Wagen durcheinanderkommen könnten, und halfen ihm nicht. Er eilte Hände ringend, ja: verzweifelt zu seinem Wagen zurück und klagte laut: „Keiner! Kein Einziger!“. Die Fahrgäste entstiegen ungeduldig seiner Droschke und wählten eine andere. Ich stand mit meinem Taxi neben ihm auf einem Halteplatze nur für anliefernde Taxen und entließ dort gerade meine Passagiere, als ich dies vernahm. Ich ging zu dem Collegen und stellte meinen Wagen für die Starthilfe bereit. Was denkst du, wie froh er war. Geradezu himmelisch getröstet.“
„Ja, schön. Aber das nennst du ein Wunder? Das ist doch nur ein Zufall! Nichts als ein schöner Zufall, dass der Taxifahrer gerade dir begeg’net ist, der du eben ein freundlicher Mensch bist!“
„Ja, das nenne ich ein Wunder, und zwar tue ich dies minder leichtfährtig denn du eingangs deine Gottlosigheit ‚wunderba(h)r’ nanntest. Und einen ‚Zufall’ nenne ich auch das am Flughafen Erlebte. Mittels des Namens ‚Zu-Fall’ wird der Fall genannt, der zu einem anderen Falle hinzufällt. Aber dies Hinzufallen oder dieser Hinzufall weder nennt noch beweist, dass kein tieferer oder gar wunderbahrer Zusammenhang des Werdens mit dem einen Falle sei. Ich aber gelaube nicht an Blitze aus heiterem Himmel, sondern an einen großen Verbund des Werdens und Seiens, in dem kein Mensch allein oder nur vereinzelt ist. Das Wunder ist nicht spectaculär und geschieht nicht, um die ‚Naturgesetze’ genannten Wirkzusammenhänge zu brechen, sondern um die Anwesenheit der Liebe aufzuzeigen.“
„Du biegst dir die Worte immer so lange zurecht, bis sie in deinen Kram passen!“
„So erlebst du dies? Hm. Aber wenn ich Worte zurechtzubiegen vermag, dann beweist dies nur die Unstarrheit und Biegsammheit der Worte. Vielleicht sind sie allso nicht so starr, wie du sie dir denkst, dass du niemandem erlaubst, sie anders denn du zu denken? Und du meinst nun den Namen ‚Zufall’? Ja, ich prüfte den Namen vor Gebrauch, aber mit Sprachwissenschafft begründet. So entdecke ich, dass der Name ‚Zu-Fall’ nicht als Nennleistung enthält, dass wie bereits verkündet hinter dem „Zufalle“ keine bedeutsamme oder tiefere, mithin sinnvolle oder gar wunderbahre Verbindung bestehe. Dies lässt der Name ungenannt und allso offen. Und ich denke in die Worte hinein, welche uns die Umgangssprache vorgiebt. Und wenn ich derweil des Hineindenkens auf Widersinniges stoße, bin ich für eine Berichtigung bereit. So komme ich darzu, im umgangssprachlichen Worte ‚Zufall’ nicht den schon genannten Blitz aus heiterem Himmel, sondern den wenn auch unsichtbahren Zusammenhang zu denken. Das ist vielen leichtsinnigen oder gar oberflachen Sprechern ungenehm und unbequem, jedoch für mich die einzig richtige Weise des Sprech- oder Wortdenkens.“
„Jaja, du bist ein unverbesserlicher Besserwisser.“, grinste sie so, als sei sie unüberwindlich.
Frieder, der ja nicht sie zu überwinden, sondern ihr lediglich zu in sich schlüssigen Gedanken zu verhelfen versucht hatte, lächelte nur leicht und durchaus noch wohlwollend.
Später, als er dem Gespräche nachdachte, kam ihm die Frage in sein Bewissen, wie er wann darzu gekommen sei und begonnen habe, in die Worte hineinzudenken. Und nach langem inneren Forschen, Graben und Suchen erinnerte er, wie er als junger Mann immer öfter bewogen war, zu wissen innig zu wünschen, was jemand genau meinte, der mit ihm nicht nur beiläufig über etwas ihnen Beiden Wichtiges sprach und unclare Worte verwendete. So etwa ‚Freiheit’ oder stärker noch: ‚Willensfreiheit’. Oder: ‚Geist’, ‚Tod’, ‚Wahrheit’, et c. Der eine oder andere Sprecher schien etwas jeweils Anderes zu den Namen hinzuzudenken als andere Sprecher dies taten. Wie kam dies aber?
Die Hinzudenkungen zu den Namen dünkten Frieder bei jenen Sprechern desto zweifelhafter, je mehr sie der Umgangssprache prüflos gehorchten. Und diese Gehorsammen kamen auch in sich nicht auf den oder einen Grund, denn darzu hätten sie bereit seien müssen, die Oberfläche ihres Denkens fragend zu untergraben. Aber gerade darzu waren sie nicht bereit.
Als Frieder aber nun seinerseits sich auf den Grund zu kommen versuchte, bemühte er sich, zu erinnern, wie er gewesen war, als er noch nicht als „Ich“ sich erlebte. Und er gelangte zu Erinnerungsbruchstücken, in denen er als der durch die Sinne und zumeist durch den Gesichtssinn Vernehmende schemenartig enthalten war. So entdeckte er den Beginn seiner Welt. Seiner Welt? War diese eine andere denn das gesammte Seiende, das ihn und alle Menschen umgab? Wie mochte er allso nun ‚seine Welt’ oder deren Beginn entdecken? Und doch fand er immer mehr Einzelheiten einer Welt, die er mit anderen Menschen nicht teilen konnte, obwohl er es versuchte. Sie jedoch sahen dies oder jenes schlichtweg anders und waren nicht bereit, ihre Ansicht, Deutung, Erachtung oder Wertung des von ihnen Vernommenen, Empfundenen, Gedachten in Frage zu stellen, sodass sie im Ganzen ein anderes Weltdeutungsgefüge im Kopfe trugen. Und wenn Frieder es recht bedachte, dann war ihr Deutungsgefüge schon ihre Welt. Und das sie Alle Umgebende nannten sie zwar die ‚Welt’, als sei dar nur Eine-für-Alle, jedoch waren dar so viele Welten wie Sprecher und Träumer.
Frieder kam auch nach langer, bedenkender Prüfung seiner Gedanken wiederum zu dem Schlusse, dass der Gedanke nur einer Welt für alle Sprecher nicht zu halten war. Zwar dachte Frieder, dass die SCHÖPFUNG eine einzige für alle Geschöpfe sei, jedoch von den diese eine, einzige, ewige, heilige, liebevolle, unzertrennte Schöpfung nicht erkennenden, jedoch nur teilweise vernehmenden, deutenden, erachtenden, wertenden Sprechern in deren unstete Träume zertrennt. So viele Welten sind, wie Sprecher sind, wenn auch alle diese Sprecher eine große gemeinsamme Schnittmenge aufwiesen, über die eine Verständigung möglich war und gelang.
Und weil er für alle seine Unterscheidungen andere Namen bedurfte und brauchte, um sie zu versiegeln und freilich zu begreifen, nannte er die Sicht- und Deutungsweise eines jeden nur an sich und seine Ansätze G’laubenden das ‚Ego’. Das ‚Ego’ war ein Name für die Trennungssicht der an diese Sicht als „Wahrheit“ prüflos G’laubenden. Wer hingegen liebte (und zwar nicht tote, lieblose Dinge, sondern Beseeltes), der war zumindest bereit, die durch das Ego hindurch gezogenen Grenzen oder Trennungen zu relativieren oder aufzuheben. Aber wenn dies geschah, war es so selten und doch so erstaunlich erfreulich, dass Frieder dies ein ‚Wunder’ nannte, auch wenn dies zumeist nicht auffällig oder gar spectaculär war und nur ihm sich darbot. Dieser Name ‚Wunder’ war ihm nun der Name für die Schauweise der Ungetrenntheit in LIEBE.
Eines Tages darnach, als er abermals vergeblich versucht hatte, Rêveries Sinn für den Geist und somit für dessen Erscheinung als Wunder mittels gesprochener Sprache zu öff’nen, dachte er missmutig, dass manche Menschen so verstockt oder so dumm seien, dass sie nie zu der umfassenden LIEBE kämen, die von vielen Sprechern so verdeckend ‚Gott’ genannt ward. Als „verdeckend“ fand Frieder diesen Namen, weil er nicht offen die Liebe nannte, sondern „etwas Angerufenes“ oder aber „etwas, dem ein Gussopfer gegossen wird“, das erst durch Nachlesen in einem Herkunftswörterbuche zu ersehen war.
So schwer war dies! Viele Menschen hegten eine Gottesvorstellung, die von eisenhart dictierten Lehrweisen alias ‚Dogmen’ oder traditionsüberladenen Katechismen vorgegeben worden war, weil schon und allein der Name ‚Gott’ diesen Dogmen nicht widersprach. Dass die unendliche, ungegrenzte LIEBE mit dem Namen ‚Gott’ von keinem Sprecher unmittelbahr und offenhörlich genannt und allso nicht gedacht ward, bemerkte kaum jemand (trotz 1.Joh 4,16!). So blieb diese LIEBE unerschlossen und unempfunden (obwohl SIE immer HIER war und ist), weil SIE von einem Phantom mit anderem, nichtssagendem Namen ersetzt worden war, zu dem allgemein nicht „LIEBE“ hinzugedacht ward, sondern irgend etwas Anderes. Und manche Sprecher – so dachte Frieder – hatten sich der Maßen an die Ausgeschlossenheit der LIEBE gewöhnt, dass sie so verstockt und dumm geworden waren, SIE niemales zu finden.
Er, Frieder, hatte allso unbemerkt und ungewollt die Schöpfung der LIEBE gespaltet, nämlich in die zwei Lager der „Geistbereiten“ und der „Geistvermeider“. Ein unguter Gedanke und ein heilloses Urteil!
Aber wiederum begegeneten er und Rêverie einander. Sie war niedergedrückt, weil ihrer Beider gemeinsamme Bekannte namens ‚Christiane’ nach längerem Leiden gestorben war.
„Dass ein Leben so einfach endet und weg ist!“, seufzte Rêverie.
„Das sehe ich nicht so.“, bot Frieder einleitend an, ihr seine Sicht vorzustellen.
Zu seinem freudigen Erstaunen wimmelte seine Schwägerinn ihn nicht wieder hochmütig ab, sondern sie nahm sein Angebot an, denn sie blickte ihn fragend, ja: bittend und mit einem Fünklein Hoff’nung in ihren Augen an, seine Ansicht mit ihr zu teilen. So sprach er: „Etwas wie ‚ein Leben’ erachte ich als einen Traum. Dar sind nicht „dein Leben“, „mein Leben“, „Christianes Leben“ und „das Leben dessen“ oder „das Leben deren“, sondern dar ist nur EIN LEBEN: DAS, welches wir Alle miteinander teilen, ohne ES zu zerteilen. Und das Jenige, das der Mensch, den wir ‚Christiane’ nannten und als Christiane kannten, eigentlich war, nämlich unsterbliche Seele, das ist er, der Mensch, noch immer, auch wenn er nun dem Cörper entschwebt ist.“
„Das mag ja so seien. Aber du sprichst doch immer wieder von Wundern! Hätte denn nicht jetzt endlich mal ein echtes Wunder geschehen können, das uns zeigte, dass wir Alle behütet werden? Hätte Christiane nicht einfach gesund werden können?“
„Das wäre schön einfach, denn so müsste niemand etwas zu seinem bislang gottlosen Weltdeutungsgefüge hinzulernen, nicht? Wir könnten auch fürderhin an den Menschen als einen „Cörper“ g’lauben und müssten später wiederum um ihn bangen, wenn er dann doch stirbt. Aber für mich ist das Wunder schon geschehen, liebe Rêverie. Dass du mich heute und nun nicht verspottest, wie sonst doch so oft und gern, sondern hoffenden Auges mich um meine Sichtweise und somit um das Wunder befragst, das ist mir schon ein Wunder, denn es zeigt mir, dass ich eine falsche Angst um dich hegte. Nun mögest du nur noch friedlich loslassen, nämlich die lang gehegte Denke, dass unser LEBEN so ausschließlich an die jeweiligen sterblichen Hüllen alias die ‚Cörper’ gebunden sei, dass ES ohne diese nicht auskomme. Aber ES ist immer HIER, auch wenn wir es nicht sehen oder hören können. Und wir Beide, ja: wir Alle sind darinnen und von IHM bewegt und beat’met.“
„Ach, das ist doch Alles nur Theorie! Stattdessen würde ich so gern Christianes Lachen noch ein Mal hören und ihr süßes Lächeln noch ein Mal sehen oder sie umarmen! Ist dieser Wunsch denn so falsch, dass er mir nicht erfüllt werden kann?“
„Du hörst und siehst es doch immer dann, wenn du ihres Lächelns oder des (Klang-)Bildes ihres Lachens gedenkst. Du vernimmst es zwar nicht wieder über die Sinne, aber die Sinne unserer Cörper bieten uns ohnehin nichts Ewiges oder Waares, sondern eben stets nur das Untreue, nämlich: das Vergängliche. Allein das Ewige ist unvergänglich und unvernehmlich. Aber wir mögen uns dennoch dem Ewigen öff’nen, wenn auch nicht über die darzu untauglichen Sinne, sondern innerlich. Und dort ist auch sie, die liebe Christiane, die uns voraus- und hinüberschwebte und uns zulächelt, dass wir ihr bald folgen mögen.“
Rêverie dachte den Worten lange, lange nach. Sie seufzte mitunter oder at’mete schwer, bis sie endlich leise sprach: „Ja. Ein anderer Trost ist wohl nicht möglich. Ich danke dir. Aber wo ist nun dein Wunder?“
„Mein Wunder ist, dass du nun die ersten Schritte getan hast, das Wunder und mit ihm den Geist der LIEBE anzunehmen, der auch ohne vergänglichen Cörper LEBT.“
Auch Frieder dachte später dem Gespräche nach. Und er fand zunehmend, dass Alles, das geschah, entweder als ein einziges Wunder oder aber als eine nicht abreißende Kette schönster Wunder anzuschauen sei. So befand er sich in einem dauernden Wunder. Und das dauernde Wunder nannte er die ‚große Schau’.
*
des Autors Achim Elfers
aus seinem Buch "Das glaubst du ja nur!",
Verlag Ch. Möllmann, Borchen, 2.Auflage 2016
„Gott sei Dank bin ich Atheist! Ich komm’ wunderbar ohne Gott aus!“
Nach einer scharf gepfefferten Geistvermeidungsrede sprach seine Schwägerinn Rêverie triumphalischer Laune dies Bekenntniss aus, hob derweil ihre Arme wie eine Siegerinn nach einem Kinderwettrennen. Frieder staunte immer wieder ob solches Getues, solches ihm leichtfährtig klingenden Sprechens und ihm flach erscheinenden Denkens.
„Wunder-bar mit einfachem ‚a’? Oder ‚wunder-bahr’ mit ‚ah’? Wie meinst du das? Du kommest bar jedes Wunders ohne Gott aus?“, stichelte er mit geheuchelt sanfter Stimme.
Sie aber kannte ihn und entgegenete hochmütig lachend: „Tu doch bloß nicht so! Du weißt doch genau, wie ich das meine!“
Frieder ließ sich jedoch so nicht abwimmeln und fragte: „Ich vermute, ich wisse es, aber sprich: Was denkst du ernstlich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzu, dass du ‚wunderba(h)r ohne Gott auskommest’?“
„Ernstlich? Eigentlich nichts. Wer glaubt schon an Wunder? Das tun doch nur Kinder, Naive und Irre.“
„Und spirituelle Christen.“
Rêverie antwortete zuerst mit erkünsteltem Lachen; dann fragte sie: „Ach ja? Und was ist ein Wunder?“
„Das weiß ich nicht. Vermutlich nennt der Name ‚Wunder’ nichts Eigenständiges. Aber ich weiß zu bekunden, was ich zu dem Namen ‚Wunder’ hinzudenke; nämlich, dass im Wunder dem Menschen eine Schauweise neben der gemeinen alias normalen Sichtweise angeboten werde.“
„Wie meinst du das?“
„Wir sehen alltäglich, unablässig und gemeinhin in der insofern normalen Sichtweise, als diese der gemeinen Norm genügt. Diese Sichtweise nenne ich (und nicht nur ich) das ‚Ego’. Das ‚Ego’ ist mir der Name für die Sichtweise der Trennung und Vereinzelung, in welcher der Mensch als ein von innen bewegter Cörper gesehen wird, der unter tausenden anderen Cörpern ein Einzelleben führe, bis er stirbt, was als sein „Tod“ erachtet wird. Das Wunder als Angebot einer Weise des Schauens hebt die Trennung und Vereinzelung auf. Per exemplum mag jemand denken, er sei allein, weil er schon elf Menschen vergeblich fragte, ob sie ihm helfen könnten, und sie Alle verneinten. Aber dann, als er schon aufgegeben hat und niemanden mehr zu fragen bereit ist, kommt ein Zwölfter und lächelt ihm entgegen. Er hilft ihm. Darin erachte ich das Wunder: Mit einem unerwarteten, ja: als „möglich“ ausgeschlossenen Male wird dem Verzweifelten gezeigt, dass er doch nicht allein ist.“
„Hast du das so erlebt?“
„Ja. Ein Taxi-Chauffeur stand am Flughafen an erster Stelle und als Fahrgäste bei ihm eingestiegen waren, sprang sein Wagen nicht an. Er fragte bei seinen nächsten elf Collegen, ob sie ihm Starthilfe geben könnten; die darfür erforderlichen Starterkabel habe er. Aber alle elf Collegen verwiesen darauf, dass durch Starthilfe die elektronischen Geräte in ihrem eigenen Wagen durcheinanderkommen könnten, und halfen ihm nicht. Er eilte Hände ringend, ja: verzweifelt zu seinem Wagen zurück und klagte laut: „Keiner! Kein Einziger!“. Die Fahrgäste entstiegen ungeduldig seiner Droschke und wählten eine andere. Ich stand mit meinem Taxi neben ihm auf einem Halteplatze nur für anliefernde Taxen und entließ dort gerade meine Passagiere, als ich dies vernahm. Ich ging zu dem Collegen und stellte meinen Wagen für die Starthilfe bereit. Was denkst du, wie froh er war. Geradezu himmelisch getröstet.“
„Ja, schön. Aber das nennst du ein Wunder? Das ist doch nur ein Zufall! Nichts als ein schöner Zufall, dass der Taxifahrer gerade dir begeg’net ist, der du eben ein freundlicher Mensch bist!“
„Ja, das nenne ich ein Wunder, und zwar tue ich dies minder leichtfährtig denn du eingangs deine Gottlosigheit ‚wunderba(h)r’ nanntest. Und einen ‚Zufall’ nenne ich auch das am Flughafen Erlebte. Mittels des Namens ‚Zu-Fall’ wird der Fall genannt, der zu einem anderen Falle hinzufällt. Aber dies Hinzufallen oder dieser Hinzufall weder nennt noch beweist, dass kein tieferer oder gar wunderbahrer Zusammenhang des Werdens mit dem einen Falle sei. Ich aber gelaube nicht an Blitze aus heiterem Himmel, sondern an einen großen Verbund des Werdens und Seiens, in dem kein Mensch allein oder nur vereinzelt ist. Das Wunder ist nicht spectaculär und geschieht nicht, um die ‚Naturgesetze’ genannten Wirkzusammenhänge zu brechen, sondern um die Anwesenheit der Liebe aufzuzeigen.“
„Du biegst dir die Worte immer so lange zurecht, bis sie in deinen Kram passen!“
„So erlebst du dies? Hm. Aber wenn ich Worte zurechtzubiegen vermag, dann beweist dies nur die Unstarrheit und Biegsammheit der Worte. Vielleicht sind sie allso nicht so starr, wie du sie dir denkst, dass du niemandem erlaubst, sie anders denn du zu denken? Und du meinst nun den Namen ‚Zufall’? Ja, ich prüfte den Namen vor Gebrauch, aber mit Sprachwissenschafft begründet. So entdecke ich, dass der Name ‚Zu-Fall’ nicht als Nennleistung enthält, dass wie bereits verkündet hinter dem „Zufalle“ keine bedeutsamme oder tiefere, mithin sinnvolle oder gar wunderbahre Verbindung bestehe. Dies lässt der Name ungenannt und allso offen. Und ich denke in die Worte hinein, welche uns die Umgangssprache vorgiebt. Und wenn ich derweil des Hineindenkens auf Widersinniges stoße, bin ich für eine Berichtigung bereit. So komme ich darzu, im umgangssprachlichen Worte ‚Zufall’ nicht den schon genannten Blitz aus heiterem Himmel, sondern den wenn auch unsichtbahren Zusammenhang zu denken. Das ist vielen leichtsinnigen oder gar oberflachen Sprechern ungenehm und unbequem, jedoch für mich die einzig richtige Weise des Sprech- oder Wortdenkens.“
„Jaja, du bist ein unverbesserlicher Besserwisser.“, grinste sie so, als sei sie unüberwindlich.
Frieder, der ja nicht sie zu überwinden, sondern ihr lediglich zu in sich schlüssigen Gedanken zu verhelfen versucht hatte, lächelte nur leicht und durchaus noch wohlwollend.
Später, als er dem Gespräche nachdachte, kam ihm die Frage in sein Bewissen, wie er wann darzu gekommen sei und begonnen habe, in die Worte hineinzudenken. Und nach langem inneren Forschen, Graben und Suchen erinnerte er, wie er als junger Mann immer öfter bewogen war, zu wissen innig zu wünschen, was jemand genau meinte, der mit ihm nicht nur beiläufig über etwas ihnen Beiden Wichtiges sprach und unclare Worte verwendete. So etwa ‚Freiheit’ oder stärker noch: ‚Willensfreiheit’. Oder: ‚Geist’, ‚Tod’, ‚Wahrheit’, et c. Der eine oder andere Sprecher schien etwas jeweils Anderes zu den Namen hinzuzudenken als andere Sprecher dies taten. Wie kam dies aber?
Die Hinzudenkungen zu den Namen dünkten Frieder bei jenen Sprechern desto zweifelhafter, je mehr sie der Umgangssprache prüflos gehorchten. Und diese Gehorsammen kamen auch in sich nicht auf den oder einen Grund, denn darzu hätten sie bereit seien müssen, die Oberfläche ihres Denkens fragend zu untergraben. Aber gerade darzu waren sie nicht bereit.
Als Frieder aber nun seinerseits sich auf den Grund zu kommen versuchte, bemühte er sich, zu erinnern, wie er gewesen war, als er noch nicht als „Ich“ sich erlebte. Und er gelangte zu Erinnerungsbruchstücken, in denen er als der durch die Sinne und zumeist durch den Gesichtssinn Vernehmende schemenartig enthalten war. So entdeckte er den Beginn seiner Welt. Seiner Welt? War diese eine andere denn das gesammte Seiende, das ihn und alle Menschen umgab? Wie mochte er allso nun ‚seine Welt’ oder deren Beginn entdecken? Und doch fand er immer mehr Einzelheiten einer Welt, die er mit anderen Menschen nicht teilen konnte, obwohl er es versuchte. Sie jedoch sahen dies oder jenes schlichtweg anders und waren nicht bereit, ihre Ansicht, Deutung, Erachtung oder Wertung des von ihnen Vernommenen, Empfundenen, Gedachten in Frage zu stellen, sodass sie im Ganzen ein anderes Weltdeutungsgefüge im Kopfe trugen. Und wenn Frieder es recht bedachte, dann war ihr Deutungsgefüge schon ihre Welt. Und das sie Alle Umgebende nannten sie zwar die ‚Welt’, als sei dar nur Eine-für-Alle, jedoch waren dar so viele Welten wie Sprecher und Träumer.
Frieder kam auch nach langer, bedenkender Prüfung seiner Gedanken wiederum zu dem Schlusse, dass der Gedanke nur einer Welt für alle Sprecher nicht zu halten war. Zwar dachte Frieder, dass die SCHÖPFUNG eine einzige für alle Geschöpfe sei, jedoch von den diese eine, einzige, ewige, heilige, liebevolle, unzertrennte Schöpfung nicht erkennenden, jedoch nur teilweise vernehmenden, deutenden, erachtenden, wertenden Sprechern in deren unstete Träume zertrennt. So viele Welten sind, wie Sprecher sind, wenn auch alle diese Sprecher eine große gemeinsamme Schnittmenge aufwiesen, über die eine Verständigung möglich war und gelang.
Und weil er für alle seine Unterscheidungen andere Namen bedurfte und brauchte, um sie zu versiegeln und freilich zu begreifen, nannte er die Sicht- und Deutungsweise eines jeden nur an sich und seine Ansätze G’laubenden das ‚Ego’. Das ‚Ego’ war ein Name für die Trennungssicht der an diese Sicht als „Wahrheit“ prüflos G’laubenden. Wer hingegen liebte (und zwar nicht tote, lieblose Dinge, sondern Beseeltes), der war zumindest bereit, die durch das Ego hindurch gezogenen Grenzen oder Trennungen zu relativieren oder aufzuheben. Aber wenn dies geschah, war es so selten und doch so erstaunlich erfreulich, dass Frieder dies ein ‚Wunder’ nannte, auch wenn dies zumeist nicht auffällig oder gar spectaculär war und nur ihm sich darbot. Dieser Name ‚Wunder’ war ihm nun der Name für die Schauweise der Ungetrenntheit in LIEBE.
Eines Tages darnach, als er abermals vergeblich versucht hatte, Rêveries Sinn für den Geist und somit für dessen Erscheinung als Wunder mittels gesprochener Sprache zu öff’nen, dachte er missmutig, dass manche Menschen so verstockt oder so dumm seien, dass sie nie zu der umfassenden LIEBE kämen, die von vielen Sprechern so verdeckend ‚Gott’ genannt ward. Als „verdeckend“ fand Frieder diesen Namen, weil er nicht offen die Liebe nannte, sondern „etwas Angerufenes“ oder aber „etwas, dem ein Gussopfer gegossen wird“, das erst durch Nachlesen in einem Herkunftswörterbuche zu ersehen war.
So schwer war dies! Viele Menschen hegten eine Gottesvorstellung, die von eisenhart dictierten Lehrweisen alias ‚Dogmen’ oder traditionsüberladenen Katechismen vorgegeben worden war, weil schon und allein der Name ‚Gott’ diesen Dogmen nicht widersprach. Dass die unendliche, ungegrenzte LIEBE mit dem Namen ‚Gott’ von keinem Sprecher unmittelbahr und offenhörlich genannt und allso nicht gedacht ward, bemerkte kaum jemand (trotz 1.Joh 4,16!). So blieb diese LIEBE unerschlossen und unempfunden (obwohl SIE immer HIER war und ist), weil SIE von einem Phantom mit anderem, nichtssagendem Namen ersetzt worden war, zu dem allgemein nicht „LIEBE“ hinzugedacht ward, sondern irgend etwas Anderes. Und manche Sprecher – so dachte Frieder – hatten sich der Maßen an die Ausgeschlossenheit der LIEBE gewöhnt, dass sie so verstockt und dumm geworden waren, SIE niemales zu finden.
Er, Frieder, hatte allso unbemerkt und ungewollt die Schöpfung der LIEBE gespaltet, nämlich in die zwei Lager der „Geistbereiten“ und der „Geistvermeider“. Ein unguter Gedanke und ein heilloses Urteil!
Aber wiederum begegeneten er und Rêverie einander. Sie war niedergedrückt, weil ihrer Beider gemeinsamme Bekannte namens ‚Christiane’ nach längerem Leiden gestorben war.
„Dass ein Leben so einfach endet und weg ist!“, seufzte Rêverie.
„Das sehe ich nicht so.“, bot Frieder einleitend an, ihr seine Sicht vorzustellen.
Zu seinem freudigen Erstaunen wimmelte seine Schwägerinn ihn nicht wieder hochmütig ab, sondern sie nahm sein Angebot an, denn sie blickte ihn fragend, ja: bittend und mit einem Fünklein Hoff’nung in ihren Augen an, seine Ansicht mit ihr zu teilen. So sprach er: „Etwas wie ‚ein Leben’ erachte ich als einen Traum. Dar sind nicht „dein Leben“, „mein Leben“, „Christianes Leben“ und „das Leben dessen“ oder „das Leben deren“, sondern dar ist nur EIN LEBEN: DAS, welches wir Alle miteinander teilen, ohne ES zu zerteilen. Und das Jenige, das der Mensch, den wir ‚Christiane’ nannten und als Christiane kannten, eigentlich war, nämlich unsterbliche Seele, das ist er, der Mensch, noch immer, auch wenn er nun dem Cörper entschwebt ist.“
„Das mag ja so seien. Aber du sprichst doch immer wieder von Wundern! Hätte denn nicht jetzt endlich mal ein echtes Wunder geschehen können, das uns zeigte, dass wir Alle behütet werden? Hätte Christiane nicht einfach gesund werden können?“
„Das wäre schön einfach, denn so müsste niemand etwas zu seinem bislang gottlosen Weltdeutungsgefüge hinzulernen, nicht? Wir könnten auch fürderhin an den Menschen als einen „Cörper“ g’lauben und müssten später wiederum um ihn bangen, wenn er dann doch stirbt. Aber für mich ist das Wunder schon geschehen, liebe Rêverie. Dass du mich heute und nun nicht verspottest, wie sonst doch so oft und gern, sondern hoffenden Auges mich um meine Sichtweise und somit um das Wunder befragst, das ist mir schon ein Wunder, denn es zeigt mir, dass ich eine falsche Angst um dich hegte. Nun mögest du nur noch friedlich loslassen, nämlich die lang gehegte Denke, dass unser LEBEN so ausschließlich an die jeweiligen sterblichen Hüllen alias die ‚Cörper’ gebunden sei, dass ES ohne diese nicht auskomme. Aber ES ist immer HIER, auch wenn wir es nicht sehen oder hören können. Und wir Beide, ja: wir Alle sind darinnen und von IHM bewegt und beat’met.“
„Ach, das ist doch Alles nur Theorie! Stattdessen würde ich so gern Christianes Lachen noch ein Mal hören und ihr süßes Lächeln noch ein Mal sehen oder sie umarmen! Ist dieser Wunsch denn so falsch, dass er mir nicht erfüllt werden kann?“
„Du hörst und siehst es doch immer dann, wenn du ihres Lächelns oder des (Klang-)Bildes ihres Lachens gedenkst. Du vernimmst es zwar nicht wieder über die Sinne, aber die Sinne unserer Cörper bieten uns ohnehin nichts Ewiges oder Waares, sondern eben stets nur das Untreue, nämlich: das Vergängliche. Allein das Ewige ist unvergänglich und unvernehmlich. Aber wir mögen uns dennoch dem Ewigen öff’nen, wenn auch nicht über die darzu untauglichen Sinne, sondern innerlich. Und dort ist auch sie, die liebe Christiane, die uns voraus- und hinüberschwebte und uns zulächelt, dass wir ihr bald folgen mögen.“
Rêverie dachte den Worten lange, lange nach. Sie seufzte mitunter oder at’mete schwer, bis sie endlich leise sprach: „Ja. Ein anderer Trost ist wohl nicht möglich. Ich danke dir. Aber wo ist nun dein Wunder?“
„Mein Wunder ist, dass du nun die ersten Schritte getan hast, das Wunder und mit ihm den Geist der LIEBE anzunehmen, der auch ohne vergänglichen Cörper LEBT.“
Auch Frieder dachte später dem Gespräche nach. Und er fand zunehmend, dass Alles, das geschah, entweder als ein einziges Wunder oder aber als eine nicht abreißende Kette schönster Wunder anzuschauen sei. So befand er sich in einem dauernden Wunder. Und das dauernde Wunder nannte er die ‚große Schau’.
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