Wir kennen uns seit dreißig Jahren: er, der große Literaturkritiker, ich, der kleine Dienstleister, und wir haben uns von Anfang an sympathisch gefunden. Drei oder vier Mal im Jahr haben wir uns gesehen und uns immer über Literatur, unsere gemeinsame Leidenschaft, unterhalten.
Als ich im letzten Jahr mein erstes kleines Buch veröffentliche, bin nicht nur ich, sondern auch er ganz aufgeregt: gleich will er es lesen und natürlich sende ich es ihm sofort zu, ganz gespannt auf sein „Urteil“.
Er hat es nie gelesen. Natürlich hat er die Richtung gekannt, in der ich schreibe, aus unseren Gesprächen zuvor, und vielleicht ist das der Grund: meine Weltanschauung ist ganz sicher nicht die seine gewesen, die man vielleicht sinnlich-pragmatisch, zupackend und rational nennen kann, und sein Verhältnis zur Spiritualität hat er selbst als das eines Agnostikers bezeichnet: er wolle nichts ausschließen, aber solange kein Beweis vorliege, orientiere er sich lieber an der Realität.
Das ist für unsere Gespräche nie ein Problem gewesen, aber jetzt … jetzt liest er mein Buch nicht! Und natürlich bin ich irritiert. Vorsichtige Nachfragen machen klar: Nicht einmal aufgeschlagen hat er es, und ich komme an den Punkt, an dem ich die Hoffnung aufgebe, er werde es doch noch einmal in die Hand nehmen: es ist wichtiger, dass unser gutes Verhältnis bestehen bleibt.
Dann ist er achtzig geworden. Ich habe ihm bei der nächsten Gelegenheit gratuliert und ihn auf den offenen Brief seiner Tochter angesprochen, der in den Zeitungen abgedruckt gewesen ist: Die wunderbar geschriebene ganz große Liebeserklärung einer Tochter an ihren Vater, und so sage ich ihm das auch. Und dass ich fände, dass jemand, der derart in der Liebe eines anderen Menschen aufgehoben sei, von sich sagen könne, er sei angekommen. Das hat ihn sehr gerührt, und von da an ist der kleine Misston zwischen uns verschwunden, wenn wir uns wieder begegnen und doch die leise Frage im Raum steht: hast du’s jetzt gelesen? Etwas hat die kleine Verstimmung überholt und gelöscht.
Und daran habe ich viel gelernt.
Danke, lieber Freund, denn so darf ich dich nennen, seit wir uns dieses eine Mal begegnet sind an dem Ort, den man in Büchern eh nur unzureichend beschreiben kann.
Heute in der Nacht bist du gestorben. Lebe wohl!
*
Als ich im letzten Jahr mein erstes kleines Buch veröffentliche, bin nicht nur ich, sondern auch er ganz aufgeregt: gleich will er es lesen und natürlich sende ich es ihm sofort zu, ganz gespannt auf sein „Urteil“.
Er hat es nie gelesen. Natürlich hat er die Richtung gekannt, in der ich schreibe, aus unseren Gesprächen zuvor, und vielleicht ist das der Grund: meine Weltanschauung ist ganz sicher nicht die seine gewesen, die man vielleicht sinnlich-pragmatisch, zupackend und rational nennen kann, und sein Verhältnis zur Spiritualität hat er selbst als das eines Agnostikers bezeichnet: er wolle nichts ausschließen, aber solange kein Beweis vorliege, orientiere er sich lieber an der Realität.
Das ist für unsere Gespräche nie ein Problem gewesen, aber jetzt … jetzt liest er mein Buch nicht! Und natürlich bin ich irritiert. Vorsichtige Nachfragen machen klar: Nicht einmal aufgeschlagen hat er es, und ich komme an den Punkt, an dem ich die Hoffnung aufgebe, er werde es doch noch einmal in die Hand nehmen: es ist wichtiger, dass unser gutes Verhältnis bestehen bleibt.
Dann ist er achtzig geworden. Ich habe ihm bei der nächsten Gelegenheit gratuliert und ihn auf den offenen Brief seiner Tochter angesprochen, der in den Zeitungen abgedruckt gewesen ist: Die wunderbar geschriebene ganz große Liebeserklärung einer Tochter an ihren Vater, und so sage ich ihm das auch. Und dass ich fände, dass jemand, der derart in der Liebe eines anderen Menschen aufgehoben sei, von sich sagen könne, er sei angekommen. Das hat ihn sehr gerührt, und von da an ist der kleine Misston zwischen uns verschwunden, wenn wir uns wieder begegnen und doch die leise Frage im Raum steht: hast du’s jetzt gelesen? Etwas hat die kleine Verstimmung überholt und gelöscht.
Und daran habe ich viel gelernt.
Danke, lieber Freund, denn so darf ich dich nennen, seit wir uns dieses eine Mal begegnet sind an dem Ort, den man in Büchern eh nur unzureichend beschreiben kann.
Heute in der Nacht bist du gestorben. Lebe wohl!
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