Beide Mitte fünfzig, schätze ich, ein Ehepaar. Woran erkennt man das eigentlich immer so treffsicher? Sie haben vom Hotel Fahrräder ausgeliehen, ich nehme mal an, um eine Sommersonnentour durch die Schönste Stadt zu machen. Aber der Start gelingt noch nicht ganz: Sie bemerkt schon nach wenigen Metern, dass die Einstellung des Sattels auf die physiologischen Gegebenheiten ihrer Körperstrukturen nur suboptimal angepasst ist und steigt wieder ab, um dies zu korrigieren. Mir fällt auf, dass sie dabei keinerlei Kontakt zu ihrem Mann aufnimmt, nicht nur kein Wort an ihn richtet, sondern ihn mit keiner Geste in die Situation einbezieht. Aber das ist ja auch nicht nötig, sage ich mir, einen ersten klitzekleinen Verdacht verjagend, das erklärt sich hier ja schließlich alles von selbst! So scheint das ihr Mann im übrigen auch zu sehen, denn mit stoisch – gelassener Miene beginnt er jetzt, seine Frau weiterradelnd zu umkreisen, während diese sich daran macht, den Sattel in eine geeignetere Position zu bringen. Um den Erfolg ihrer Korrekturmaßnahmen zu überprüfen, sind dann natürlich kleine Testfahrten nötig, derer es viele werden, sehr viele, vom Beginn meiner Zählung an bis zur definitiven Abfahrt sind es sieben! Derweil kreist der Ehemann weiter in der Warteschleife, zunächst mit gleichbleibend gelassenem Gesichtsausdruck, der sich aber deutlich verschattet, als er zum ersten Mal eine dieser Testfahrten als geglückt missdeutet, aus dem Wartekreis nach Art eines Ragattastarts losfahren will, und dieser befreiende Impuls durch den Anblick seiner Frau erstickt wird, die erneut vom Sattel rutscht, der doch noch einen Tick zu hoch eingestellt scheint. Das hätte vielleicht nicht ein zweites Mal passieren dürfen, aber genau das tut es, und jetzt sieht man düstere, sehr düstere Wolken, die sich über der Stirn des Getäuschten zusammenbrauen, ein ohnmächtiger Groll umgibt ihn, und sie sprechen immer noch kein Wort miteinander.
Sie weiß genau, wann ihre Testfahrten ihr glückliches Ende finden werden, und sie erwischt einen wahrhaft genialen Augenblick: er hat sein Fahrrad angehalten, sein Kreisen aufgegeben und steht jetzt wie vollkommen erschöpft mit dem Rücken zu ihr da, die Räder weisen jeweils exakt in die Gegenrichtung. Das ist der Moment, in dem sie losfährt.
Sie kennen sich gut, sehr gut, muss ich denken, ist es das, was Ehepaare oft ausmacht, dass sie sich so gut kennen?
Er hätte, um ihr unmittelbar folgen zu können, das Rad auf der Stelle wenden müssen, wie ungelenk das, speziell bei Männerrädern aussehen kann, hat man vor Augen. Aber das tut er nicht, sondern, als habe die Abfahrt seiner Frau ihn mit einem neuen Lebensimpuls beseelt, steigt er nun vollends ab und beginnt seinerseits, die Höhe seines Sattels auf eine orthopädisch sinnvolle Einstellung hin zu untersuchen.
Seine Frau indes radelt direkt auf mich arglos die Szene Beobachtenden zu und als sie genau auf meiner Höhe ist, schreit sie mir förmlich ins Gesicht: „In welche Richtung müssen wir überhaupt?“
Es antwortet niemand, ich nicht, weil ich mit einiger Berechtigung davon ausgehen kann, dass ich nicht gemeint bin mit dieser Anfrage, auch wenn die körperliche Nähe zu der Fragerin das vielleicht im ersten Moment vermuten lässt, und ihr Mann auch nicht, weil der sich inzwischen von seinem Fahrrad, an dem er sattelruckend seine Korrekturen vornimmt, schlingernd hinter eine der großen, formschön zugeschnittenen Hecken des Hotelvorplatzes hat ziehen lassen, von wo aus er erstens für eine Antwort auf die Frage seiner Frau nicht mehr zur Verfügung steht und von ihr, wenn sie sich jetzt gleich umdrehen wird, zweitens gar nicht mehr gesehen werden kann.
Sie kennen sich gut. Seine Frau ist wohl überrascht, dass er nicht hinter ihr ist und ihr antwortet - davon ist sie tatsächlich ausgegangen - verlangsamt aber einfach nur ihre Fahrt, stoppt, stellt einen Fuß aufs Mäuerchen, und … schaut sich eben nicht um! Er wird gleich kommen. Wie immer. Er wird hinter ihr auftauchen und auf ihre Fragen antworten. Sie muss sich nicht umschauen.
Das dauert dann auch noch mal gefühlt eine Minute, wahrscheinlich sind es nur fünfzehn Sekunden. Irgendwann gibt er auf, kommt hinter der Hecke hervor, setzt sich aufs Rad und fährt los. Allerdings nicht auf dem Gehweg, den sie vorausgefahren ist, sondern auf der Straße, ganz auf der anderen Seite. Beziehungsloser hab' ich nie Zweie, die sich irgendwie kennen, aneinandervorbeikommen sehen! Er kennt sie gar nicht. Fünfzig Meter ist er voraus, da folgt sie ihm.
Immerhin, die richtige Frage ist ja eigentlich gestellt worden: „In welche Richtung müssen wir überhaupt?“
Ich täte mal sagen: „In die andere!“
*
Sie weiß genau, wann ihre Testfahrten ihr glückliches Ende finden werden, und sie erwischt einen wahrhaft genialen Augenblick: er hat sein Fahrrad angehalten, sein Kreisen aufgegeben und steht jetzt wie vollkommen erschöpft mit dem Rücken zu ihr da, die Räder weisen jeweils exakt in die Gegenrichtung. Das ist der Moment, in dem sie losfährt.
Sie kennen sich gut, sehr gut, muss ich denken, ist es das, was Ehepaare oft ausmacht, dass sie sich so gut kennen?
Er hätte, um ihr unmittelbar folgen zu können, das Rad auf der Stelle wenden müssen, wie ungelenk das, speziell bei Männerrädern aussehen kann, hat man vor Augen. Aber das tut er nicht, sondern, als habe die Abfahrt seiner Frau ihn mit einem neuen Lebensimpuls beseelt, steigt er nun vollends ab und beginnt seinerseits, die Höhe seines Sattels auf eine orthopädisch sinnvolle Einstellung hin zu untersuchen.
Seine Frau indes radelt direkt auf mich arglos die Szene Beobachtenden zu und als sie genau auf meiner Höhe ist, schreit sie mir förmlich ins Gesicht: „In welche Richtung müssen wir überhaupt?“
Es antwortet niemand, ich nicht, weil ich mit einiger Berechtigung davon ausgehen kann, dass ich nicht gemeint bin mit dieser Anfrage, auch wenn die körperliche Nähe zu der Fragerin das vielleicht im ersten Moment vermuten lässt, und ihr Mann auch nicht, weil der sich inzwischen von seinem Fahrrad, an dem er sattelruckend seine Korrekturen vornimmt, schlingernd hinter eine der großen, formschön zugeschnittenen Hecken des Hotelvorplatzes hat ziehen lassen, von wo aus er erstens für eine Antwort auf die Frage seiner Frau nicht mehr zur Verfügung steht und von ihr, wenn sie sich jetzt gleich umdrehen wird, zweitens gar nicht mehr gesehen werden kann.
Sie kennen sich gut. Seine Frau ist wohl überrascht, dass er nicht hinter ihr ist und ihr antwortet - davon ist sie tatsächlich ausgegangen - verlangsamt aber einfach nur ihre Fahrt, stoppt, stellt einen Fuß aufs Mäuerchen, und … schaut sich eben nicht um! Er wird gleich kommen. Wie immer. Er wird hinter ihr auftauchen und auf ihre Fragen antworten. Sie muss sich nicht umschauen.
Das dauert dann auch noch mal gefühlt eine Minute, wahrscheinlich sind es nur fünfzehn Sekunden. Irgendwann gibt er auf, kommt hinter der Hecke hervor, setzt sich aufs Rad und fährt los. Allerdings nicht auf dem Gehweg, den sie vorausgefahren ist, sondern auf der Straße, ganz auf der anderen Seite. Beziehungsloser hab' ich nie Zweie, die sich irgendwie kennen, aneinandervorbeikommen sehen! Er kennt sie gar nicht. Fünfzig Meter ist er voraus, da folgt sie ihm.
Immerhin, die richtige Frage ist ja eigentlich gestellt worden: „In welche Richtung müssen wir überhaupt?“
Ich täte mal sagen: „In die andere!“
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